Page images
PDF
EPUB

theil wider eine Hypothese aus; so viel sich auch einst Cartes darauf zu Gute that, daß die Natur für seine Hypothese zu eingeschränkt sei, und daß er ihr Trok bieten könnte, eine Erscheinung hervorzubringen, die er nicht sogleich erklären könnte.

In der That kann dieses Hr. Boscovich von seiner Hypothese gleichfalls rühmen. Die allerfeltsamste Erscheinung in der Natur kostet ihm nicht mehr als einige Züge und Durchkreuzungen in der Linie der Kräfte, die er zum Grunde legt, so ist fte erklärt. Da er die Natur seiner Curve nicht genau be= stimmt hat, so stehen ihm so viele Durchkreuzungen der Are, so viele Schranken, ja so viele asymptotische Füße, und daher so viele und so mannigfaltige Kräfte zu Diensten, als er deren nur immer bedarf. Welche natürliche Begebenheit wird nunmehr schwer zu erklären seyn? Fragt man: wie kommt es, daß gewisse Körper die Beschaffenheit haben, daß ihre Theile zwar aus ihrer Lage verrückt werden können, aber jederzeit eine Bemühung anwenden, sich wieder in ihren vorigen Zustand zu versehen? so ist die Antwort: weil ihre Punkte in solchen Schranken sich befinden, allwo die Kräfte erst zurückstoßend, hernach anziehend werden. Warum bleiben die Theile der weichen Körper in der Lage, in welche man sie versezt? Das macht, weil bei ihnen die Schranken sehr häufig auf einander folgen, dergestalt, daß jeder Punkt, sobald er eine Schranke verläßt, wieder in eine andere eintritt; allwo er folglich weder angezogen, noch zurückgestoßen wird, mithin nach einigen Schwingungen ruhen muß. Noch mehr! die Salze, Eis, Schnee u. s. w. schießen unter gewissen Figuren an; wie geht dieses Nichts ist leichter zu sagen, als dieses. Hr. Boscovich hat gezeigt, daß es in seiner Linie solche Stellen geben könne, allwo die Punkte sich nothwendig in gewisse Figuren ordnen müssen, weil sie sich in jeder andern Lage zurückstoßen, und nur in dieser einzigen einander anziehn. Kurz! die allerschwersten Fragen lassen sich mit einer erstaunenswürdigen Leichtigkeit beantworten. Aber was sind dieses für Beantwortungen? und was für ein Licht geben sie uns mehr, als die bloßen Data, die sie erläutern sollen? Die Erfahrung lehrt, daß sich die Theile eines elastischen Körpers zusammenziehen, wenn sie ausgedehnt, und ausdehnen, wenn sie zusammengezogen werden. Ein Jeder sieht, daß hier Kräfte seyn müssen, die in einer groBeren Entfernung ein Zusammenziehen, in einer kleinern aber

zu?

ein Zurückstoßen verursachen müssen. Man fragt: was find dieses für Kräfte? woher entspringen sie? Geschieht nun dieser Frage ein Genüge, wenn man mit Hrn. Boscovich antwortet, die Kräfte der elastischen Körper wåren so bes schaffen, daß sie in kleinern Distanzen zurückstoßend, in größern aber zusammenziehend werden? Das haben wir ge wußt, wird man erwiedern, und so viel zeigt der Augenschein; allein woher kommt diese wunderbare Mannigfaltigkeit der Kräfte? daß man uns hier eine krumme Linie einigemal durch die Are schlängelt, das erläutert nichts. Wenn der Ursprung der Kräfte erst auf eine andere Weise erklärt wåre, so könnte man uns allenfalls den geometrischen Ort zeigen, das durch ihre verschiedenen Modificationen in Linien ausgedrückt werden können. Was für ein seltsamer Mißbrauch aber, wenn man uns diesen geometrischen Ort statt einer deutlichen Erklås rung aufdringen will!

Und dieser Fehler herrscht durchgehends in dem ganzen phyfischen Theile des Boscovich'schen Systems. Seine hypothese hat zu nichts mehr gedient, als ungefähr den Zug der Linie auf eine sehr allgemeine und unbestimmte Art anzugeben; welche allenfalls den geometrischon Ort abgeben könnte, wenn uns eine tiefere Einsicht in die Geheimnisse der Natur das Maaß der Kräfte und ihre mannigfaltigen Abänderungen, und durch diese die wahre analytische Gleichung håtte kennen gelehrt. Aber wie weit ist dieses von einer deutlichen und verständlichen Erklärung der natürlichen Erscheinungen entfernt!

Hier in dem physischen Theile erwähnt Hr. Boscovich auch endlich der Kraft der Trägheit; und er sucht sie aus dem allge meinen Newton'schen Grundsage herzuleiten, dessen ich in meis nem vorigen Schreiben *) erwähnt habe. Ich glaube aber an eben demselben Orte deutlich genug gezeigt zu haben, daß Hr. Boscovich keinen Schritt thun kann, den Newton'schen allge meinen Grundfag zu beweisen, ohne das Gefeß der Trägheit wenigstens in Ansehung der Punkte zum voraus zu sehen; und ich weiß nicht, wie er sich hier wider die Beschuldigung eines fehlerhaften Zirkels retten wird.

An einem andern Orte sieht Hr. Boscovich sehr wohl ein,

*) s. den 45sten Brief.

daß nach seiner Hypothese der Begriff von der Figur der Körper sehr unbestimmt sei, ja fogar, daß die Körper, wenn man will, nur als Flächen oder Linien betrachtet werden können. Denn da nach seiner Hypothese die Körper bloß aus Punkten, die nach allen drei Ausmessungen zerstreut sind, und aus Zwischenräumchen bestehen, so kann man diese Punkte entweder als in einer stätigen Oberfläche eingehüllt betrachten, und in diesem Fall machen sie einen Körper aus; man kann aber auch eine einzige Fläche oder gar eine einzige Linie annehmen, welche in ihren vielfältigen Krümmungen alle Punkte ohne Ausnahme in sich begreift; und in diesem Falle machen die Punkte zusammenge= nommen keinen wirklichen Körper, sondern uur eine ståtige Fläche oder eine ståtige Linie aus. Statt diese Beschuldigung von seiner Hypothese abzulehnen, sucht er vielmehr den Begriff von der Figur der Körper auch nach der gemeinen Meinung in Schwierigkeiten zu verwickeln. Er führt eine Stelle aus einer von ihm selbst geschriebenen Dissertation de figura telluris an, in welcher er zeigen will, daß wir mit dem Worte: Figur der Erde, einen sehr schwankenden Begriff verbinden. Sein Be weis ist folgender. Diejenige Oberfläche der Erde, welche die ,,Meere, Flüsse, Berge und Thåler umschränkt, ist nicht nur, ,,wenigstens in Ansehung unser, unregelmäßig, sondern auch un,,beständig; denn sie wird mit jeder kleinsten Bewegung der fe= ,,sten und flüssigen Theile verändert. Von dieser Figur der Erde ist auch niemals die Rede gewesen. Man hat eine an,,dere, gewissermaßen regelmäßige Figur dafür angenommen, die ,,jener am nächsten kommt; man hat sich nämlich vorgestellt, ,,die Berge und Hügel wären abgetragen, und die Thaler damit ,,angefüllt worden. Allein auch dieser Begriff von der Figur ,,der Erde ist schwankend und unbestimmt. Denn so wie unend„lich viele regelmäßige Curven durch eine gewisse Anzahl gegebe= ,,ner Punkte gezogen werden können; eben also können unend= ,,lich viele krumme Flächen dergestalt um die Erde gezogen wer= ,,den, daß sie entweder in gewiffen gegebenen Punkten die Berge ,,und Hügel berühren, oder dieselben auf eine solche Art durchschneiden, daß die innern leeren Lücken mit der außerhalb der Fläche befindlichen Materie angefüllt werden können; und alle diese Flächen können demungeachtet regelmäßig seyn. Es giebt „also unendlich viele verschiedene Flächen, die der Aufgabe Ge

"

,,nüge thun"; und hieraus schließt Hr. Boscovich, daß die Aufgabe selbst unbestimmt seyn müsse.

Ich bin sehr begierig, erwähnte Dissertation des Hrn. Boscovich selbst zu lesen. Ich kann mir unmöglich vorstellen, daß ein so scharfsinniger Mathematikverständiger, als Hr. Bofcovich ist, vergessen haben sollte, daß unter allen diesen mannigfaltigen regelmäßigen Flächen doch nothwendig eine die allerkleinste seyn muß; und daß ohne Zweifel von dieser Fläche die Rede ist, wenn man die Figur der Erde zu bestimmen sucht.

(Der Beschluß folgt.)

XII. Den 20 Sept. 1759.

Beschluß des 54sten Briefes.

Die Alten haben geglaubt, die Linie, welche von einem Erdpol zum andern gezogen wird, sei einem halben Zirkel åhnlich durch die Entdeckung der Neuern aber weiß man, daß diese Linie einer halben Ellipsis nåher komme, als einem halben Zirkel. Haben irgend die Alten nicht gewußt, daß man von einem Pol zum andern, durch so viel gegebene Punkte man will, unendlich viel regelmäßige Linien ziehen könne? Gewiß, dieses kann ihnen nicht unbekannt gewesen seyn. Allein sie hielten den Zirkel für die kleinste regelmäßige Linie, die um die Erde gezogen werden kann; und die Neuern haben gefunden, daß eine Ellipsis, die um die Erde gezogen wird, kleiner sei, als ein um dieselbe gezogener Zirkel. Eben dieselbe Beschaffenheit hat es mit der Fläche, durch welche man die Gestalt der Erde bestimmt. Man sucht die kleinste Fläche, die um den Erdball gezogen werden kann; und diese sucht man mathematisch, aber nicht, wie Hr. Boscovich behauptet, aestimatione quadam morali, ausfindig zu machen. Und also haben die Worte: Fis gur der Erde oder der Körper überhaupt, nach der gemeinen Hypothese eine sehr bestimmte Bedeutung. Hr. Boscovich wird

ganz allein auf diesen Ausbruck Verzicht thun müssen, weil nach seiner Hypothese die ganze Körperwelt als eine einzige ståtige Linie betrachtet werden kann, wie ich bereits oben angeführt.

Bielleicht könnte Hr. Boscovich hierin mit den Leibnizianern gemeinschaftliche Sache machen; denn obgleich nach ihrem System die deutliche Erklärung der Figur nicht eben die Schwierigkeit hat, als nach dem Boscovich'schen, so können sie doch aus andern Gründen ihrem Inbegriffe von einfachen Dingen nicht anders eine Figur zuschreiben, als insoweit die Zusammensehung derselben als eine selbstständige Erscheinung betrachtet wird. Der Pater hat ohnedem sehr vieles mit dieser Schule gemein.

Außer vielen Stücken, deren ich bereits Erwähnung gethan, stimmt er noch mit derselben ein, daß die Materie in steter Bewegung sei, daß keine Veränderung in dem kleinsten Theile der Körper vorgehen könnte, ohne eine Veränderung im Ganzen nach sich zu ziehen; und läugnet, so wie sie, die Wirklichkeit einer ståtigen Größe, eines mathematischen Körpers in der Natur. Er sagt fogar mit ausdrücklichen Worten: Geometria tota imaginaria est, et idealis, sed propositiones hypotheticae, quae inde deducuntur, sunt verae, et si existant conditiones ab illa assumptae, existent utique et conditiones inde erutae (§. 369.). Hier geht Hr. Boscovich noch weiter, als selbst die Leibnizianer. Diese würden sehr Bedenken tragen, zu sagen, die ganze Geometrie beruhe bloß auf der Einbildung.

55ster Brief.

Sie haben den rechten Punkt getroffen! Herr Boscovich scheint. auf dem halben Wege zur Wahrheit stehen geblieben zu seyn. Die Ausdehnung, Undurchdringlichkeit und noch einige andere Eigenschaften der Körper erkannte er für bloße Erschei= nungen, die ihren Grund in den Kräften der einfachen Dinge oder Punkte haben, an und für sich aber so wenig als die Farben, Wärme und Kälte u. f. w. in den Körpern außer uns so

« PreviousContinue »