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Kleine Schriften.

2. Moses Mendelssohn's kleine ungedruckte Schriften, Bemerkungen und Fragmente.

Von den ohngefähren Zufällen.

(16 März 1753.)

Man macht insgemein diesen Einwurf wider den weisen Urheber der Natur: würden wir nicht glücklicher seyn, wenn wir nicht den ohngefähren Zufällen unterworfen wåren? d. i. nach seinem rechten Verstande: wenn uns nichts unerwartetes begegnet wåre? Denn das Unerwartete oder Unvorhergesehene nennen wir ein Ohngefähr. Allein soll uns nichts unvorhergesehenes begegnen, so müssen entweder unsere Wünsche, oder die Natur und Verknüpfung der Dinge geändert werden. Das Unerwartete ist dasjenige, dessen Erfolg wir nicht aus dem, was in unserer Seele anzutreffen war, haben vorher schließen können. Wir håtten also im ersten Falle den ganzen Zusammenhang der Dinge einsehen müssen, d. h. Gott hätte uns allwissend machen sollen. Im andern Falle aber sieht ein Jeder ein, daß die Natur nach den Wünschen aller Menschen zusammen genommen håtte ge= bildet werden sollen. Wäre wohl in einer solchen Welt Wahrheit anzutreffen gewesen? Nein! Wir hatten Gottes Aumacht bewundert, ohne uns von seiner Weisheit belehren zu laffen.

Die Glücksfälle, die natürlichen Begebenheiten nämlich, die uns unerwartet zu unserm Zwecke leiten, sind von der Natur der Wunderwerke. Diese sind Begebenheiten in der Welt, welche die Almacht, nicht aber jederzeit die Weisheit Gottes verkündigen. Ein Weiser also, der von dem Daseyn einer obersten

Gottheit durch die Gründe der wahren Philosophie überzeugt ist, wird von einer natürlichen Begebenheit, deren Verknüpfung mit dem Ganzen er zum Theil einzusehen vermag, weit mehr ge= rührt, als von einem Wunderwerke. Niedrige Geister aber werden durch die beståndige Verknüpfung der Ursachen mit ihren Folgen zu dem Irrthum verleitet, die Hand eines vernünftigen, freien Wesens zu verkennen. Ihnen also find die Wunderwerke unentbehrlich; denn indem sie keine Ursache in der Natur der Dinge finden, zeugen sie unmittelbar von einem freien Regierer dieses Ganzen, und in so weit sind sie auch Proben seiner Weisheit.

Eben so verhält es sich mit den Glücksfällen. Diejenigen Güter, die wir durch unsre Bemühung erhalten, davon also der Grund in unsern Handlungen anzutreffen ist, verkündigen weit mehr eine gütige und weise Macht, als diejenigen, welche wir erlangen, ohne sie vermuthet oder etwas dazu beigetragen zu haben; weil auch alle unsre Fähigkeiten, und die Klugheit, fie nach unserm Willen zu lenken, Geschenke einer gütigen, weisen und allmächtigen Hand sind.

Ein großer Schriftsteller sagt, man müsse alsdann seine Absicht als eine Sache, die Gott nicht billigt, fahren lassen, wenn immer ein Hinderniß auf das andere in der Ausführung unsres Vorhabens folgt, das alle unfre Bemühungen zernichtet.. Allein so lange uns keine Offenbarung in solchen Fällen von dem Willen Gottes benachrichtigt, so lange können wir nichts als unsern Verstand zum Leitfaden annehmen, der nach Muth= maßung über unser Vorhaben urtheilen muß. So oft uns unfre Bemühungen fehlgeschlagen, müssen wir eine neue Unter suchung anstellen. Manchmal vermehrt ein fehlgeschlagenes Vorhaben die Wahrscheinlichkeit für die Gefahr; denn ist es ein Hinderniß, das wir bei der ersten Untersuchung nicht erwogen, das unsre Bemühung zernichtet, so muß dieß bei der zweiten Untersuchung mit in Betrachtung gezogen werden. Ist es aber ein bloßer Unglücksfall, der in der Beschaffenheit unseres Vorhabens gar nicht gegründet seyn kann, so ist es noch ein Bewegungsgrund mehr, die Sache nicht fahren zu lassen, wenn die erste Unternehmung uns fehlgeschlagen. Ein Exempel hiervon findet man im Pharospiel. Wer zum ersten Male auf eine gewisse Karte verspielt, verdoppelt den Einsaß auf eben dieselbe; hat er aber darauf gewonnen, so sest er in dieser Mischung kaum ferner

etwas darauf ein. Man hålt es für weniger wahrscheinlich, daß einerlei Karte mehrere Mal, als daß sie nur einmal auf einerlei Seite liegen würde.

Solchergestalt müssen mir, wenn uns ein Vorhaben fehl geschlagen, zwei Sachen überlegen: erstlich, ob aus der Beschaffenheit unsres Vorhabens, oder der Art und Weise, wie wir es zu erlangen gesucht, zu verstehen ist, warum unsre Bemühung uns fehlgeschlagen; oder ob uns bloße Unglücksfälle verhindert, die weder mit unserm Vorhaben, noch mit der Anstalt, die wir dazu gemacht, etwas gemein haben, auch auf keinerlei Weife zu verhüten sind. Im ersten Falle also bedenke man abermals, ob das Hinderniß gewöhnlicher ist, als wir uns vorgestellt haben; und alsdann muß erst eine neue Berechnung angestellt werden. In allen übrigen Fällen müssen wir um desto weniger von unserm Vorhaben ablassen, je mehr Wahrscheinlichkeit wir für den glücklichen Ausschlag desselben durch den ersten Verlust erlangt haben. Wenn das Glück unser Vorhaben noch so oft gutheißt, so ist es dennoch keinesweges eine Anzeige, daß der Wille Gottes mit unserer Absicht übereinstimmt. Wie oft ist das Glück nicht dem Gottlosen günstig, und läßt alle seine Unternehmungen gelingen, und dennoch kann der Lasterhafte

(Unvollendet)

Gedanken und Bemerkungen.
(den 11 April 1754.)

Unsre Begierden sind desto heftiger, auf je weniger Gegenstånde sie sich erstrecken; so daß sich die Heftigkeit umgekehrt wie die Summe der Gegenstånde verhält. Sehet die Heftigkeit — i, die Summe der Gegenstände = s; so ist die Begierde = si. Es ist daher zu untersuchen, ob nicht diese Quantität si in allen Augenblicken unsres Lebens einerlei verbleibt; welches alsdann eine vollkommene Ähnlichkeit wäre mit der Erhaltung einerlei Kräfte der Bewegung in der Natur, und zwar eigentlich der vis derivativae, weil die Bestimmung unsrer Vorstellungskraft auf einen gewissen Gegenstand, welches die Begierde ist, der vi derivativae &hnlich ist.

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