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eines Genies, der ganzen Natur gleichsam Fesseln anzulegen, und sie allenthalben hinzuführen, wohin es von seiner Hypos these geleitet wird. Man sieht mit Verwunderung, was für Triebfedern der Verfasser in Bewegung seßt, seine Hypothese in den Lauf zu bringen; und da ihm seine Aussicht alle Gegenstånde von einer neuen Seite zeigt, so kann seine Bemühung so wenig für ihn als für die Leser ganz unfruchtbar ablaufen. Er muß auf seinem Wege hier und da ein Vorurtheil gestürzt, eine Wahrheit entdeckt, eine andere besser bewiesen, oder mit fruchtbareren Folgen bereichert haben; Lohns genug für die sauerste Arbeit, die uns die Untersuchung gekostet hat! übers haupt ist es rühmlicher und der Wahrheit weit ersprießlicher, mit Genie von ihr abzuweichen, als dasjenige geistlos zu wiederholen, was Undere vor uns schon besser gesagt haben.

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Aus dem IV. Theil.

II. Den 11 Oct. 1759.

60ster Brief.

Gefeht, ein Dichter hat Empfindungen auszudrücken, die ihm fremd sind, die er niemals selbst gefühlt hat; so wird er, wenn es ihm nur nicht an Genie mangelt, wenigstens denken statt zu empfinden. Seine Empfindungen werden das entzündete Feuer der Begeisterung nicht haben, die bei dem Leser ein sympathisches Gefühl erregen kann; er wird aber doch allezeit Ges danken hervorbringen, die gelesen zu werden verdienen. denkende Kopf kann spigfindig und frostig, aber niemals abgeschmackt werden.

Der

Der Hr. Prof. Sulzer sagt irgendwo : wenn in der ,,Republik der Gelehrten Geseze könnten gegeben werden, so ,,sollte dieses eines der ersten seyn: daß sich niemand unterstehen

follte ein Schriftsteller zu werden, der nicht die vornehmsten ,,griechischen und lateinischen Schriften der Alten, mit Fleiß, und „zu wiederholten malen durchgelesen". Mich wundert es, daß dieser wahrhaftig denkende Kopf gegen die sich selbst bildenden Genies hat so unbillig seyn können. Sein Geseg håtte uns ja um alle Werke des Shakespear bringen können! Wenn es möglich wäre, so sollte man lieber den Leuten, die nicht selbst denken, das Schriftstellerhandwerk legen, und wenn sie auch die Alten mit noch so viel Fleiß durchgelesen hätten! Das Genie kann den Mangel der Exempel ersehen, aber der Mangel des Genies ist unerfeßlich.

In der gelehrten Republik taugen die geistlosen Köpfe auch nicht einmal zu bloßen Tagelöhnern. Sie können die Materia lien nicht einmal auf eine nüßliche Weise zusammentragen, die zur Einrichtung eines Gebäudes nothwendig sind. Was sieht z. B. dem ersten Anblicke nach einer Tagelöhnerarbeit ähnlicher, als das Wörterbuchschreiben? Welcher seichte Kopf, der noch so sehr von seiner Unfähigkeit überzeugt ist, wird sich nicht für tüchtig halten, ein Wörterbuch in einer Sprache zu schreiben, die er nur so halbwege versteht? Allein was für große Gaben sest diese Arbeit nicht von Seiten des Verfassers voraus, wenn sie den Nugen haben soll, den man von ihr fordern kann! Hören Sie, was der vorhin erwähnte Sulzer davon sagt: Man kann den Werth eines vollkommenen Wörterbuchs nicht ,,genug schäßen. Ein solches Werk ist ein Schah, an welchem „einer ganzen Nation sehr viel gelegen ist. Es erfordert die ver,,einigte Kraft verschiedener groffer Männer, denen es weder an philosophischer Scharfsinnigkeit und Wissenschaft, noch an gros,,fer Belesenheit, noch an Einsicht in alle Arten der Wissenschaften und Künste fehlet. Man würde vielleicht nicht zu viel ,,fagen, wenn man behauptete, daß die Verfertigung eines voll„kommenen Wörterbuchs die schwerste und fürtreflichste Arbeit ,,des menschlichen Verstandes sen".

3um Unglücke pflegen dergleichen Arbeiten mehrentheils ein Raub der schlechtesten Köpfe zu werden. Entweder wollen sich die Genies keiner so undankbaren Arbeit unterziehen, da sie ihre Fähigkeit nur gleichsam unter der Hand zeigen können; oder sie sehen die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, allzu deuts lich ein, und verzweifeln, sie mit Ruhm übersteigen zu können. Der schlechte Kopf ist glücklicher. Da er die Hindernisse nicht

sieht, die aus dem Wege zu ráumen sind, so stolpert er über alles hinweg; und glaubt sich endlich am Ziele, da er vielleicht noch am weitesten davon entfernt ist.

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Diesen Leuten ist keine Unternehmung in der Welt zu schwer. Ich kann Ihnen diese Bemerkung durch ein sehr gelegentliches Beispiel bestätigen. Sie wissen doch, daß der Hr. Prof. Sulzer vor einigen Jahren ein Werk angekündigt, darinnen er die Grundsäße und Regeln der schönen Künste", nebst dem Wichtigsten aus der Geschichte derselben, hat_in_alphabetischer Ordnung vortragen wollen. Sie werden auch gehört haben, daß er seit vielen Jahren mit ungemeinem Fleiße an diefem Werke arbeitet, und sich noch nicht im Stande glaubt, die ungeduldigen Liebhaber so bald befriedigen zu können? Der Gewissenhafte! Prof. Gottsched hat seit der Zeit ein Dictio naire der schönen Künste und Wissenschaften *) schon gesammelt, schon in Ordnung gebracht und schon drucken lassen! Sein Werk ist schwarz auf weiß in Leipzig zu haben, indessen daß Sulzer noch Künstler zu Rathe zieht, noch überlegt, åndert und verbessert. Ich wette, Gottsched's Wörterbuch wird verkauft und vergessen seyn, ehe Sulzer's Werk noch zum Vorschein kommen wird!

61ster Brief.

Die Stellen, die ich in meinem vorigen Schreiben von Sulzer angeführt, sind aus einem Werkchen, das den Titel hat: Kurzer Begriff aller Wissenschaften und anderer Theile ,,der Gelehrsamkeit, worinnen jeder nach seinem Inhalt, Nugen ,,und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird"; davon neulich die 2te, ganz veränderte und sehr vermehrte Auflage herausgekommen. Der Verf. hat es völlig umgearbeitet; und so wie es jezt ist, verdient es die Aufmerksamkeit aller Liebhaber der

"Der genaue Titel ist: Handlexikon, oder kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freien Künste. Numerk. des Herausgebers.

Wissenschaften. Sie haben hier das Land der Gelehrsamkeit wie auf einer Landkarte vor Augen, und können die Namen, die Lage und allgemeine Beschaffenheit der verschiedenen Provin zen und Städte derselben fast mit Einem Blicke übersehen. Da er mit dem Kanzler Baco verschiedene Absichten hatte, so mußte er auch einen ganz verschiedenen Weg einschlagen. Jener hielt sich am meisten bei solchen Theilen der Gelehrsamkeit auf, die zu seiner Zeit entweder noch zu erfinden oder zu vers bessern waren; dieser aber will in einem kurzen Abrisse zeigen, wie weit man gekommen, was die Gelehrten mit ihren Bemů hungen ausgerichtet haben. Die unbekannten Gegenden bemerkt er, wie die Erdschreiber zu thun pflegen, nur insoweit die Gränzen des zu beschreibenden Landes sich in dieselben zu verlies ren scheinen.

Hr. Sulzer zeigt sich in allen Theilen der Gelehrsamkeit als einen denkenden Kopf, der sich mit philosophischer Scharfsinnigkeit umgesehen, und das weitläuftige Feld der menschlichen Erkenntniß unter Einem Gesichtspunkte zu vereinigen weiß. Schade, daß es ihm nicht auch gefallen, die Werke anzuzeigen, die zur Erlernung einer jeden Wissenschaft am unentbehrlichsten sind! Bei so verschiedenen Vorschlägen zur Anlegung einer nüßlichen Bibliothek, die man schon gethan hat, scheint eine solche Arbeit von einem gründlichen Manne noch gar nicht überflüssig zu seyn.

über die Philosophie ist Hr. Sulzer am weitläuftigsten. Wolf ist fast in allen Theilen derselben sein Held; und er hat die Verdienste dieses unsterblichen Mannes in wenigen Blåts tern ganz anders anzuzeigen gewußt, als der vielschreibende Gottsched in seinem Quartanten. Die Anmerkungen, die er hier und da über noch auszufüllende Lücken in der Weltweisheit angebracht, sind wichtig. Urtheilen Sie aus folgenden Proben! Bei Gelegenheit der empirischen Psychologie erinnert er die Weltweisen (§. 206.): „die genaueste Aufmerksamkeit „auf die dunkeln Gegenden der Seele (wenn man so reden „kann) zu richten; wo sie durch sehr undeutliche und dunkele Begriffe handelt. Wolf hat die Würkungen des Verstandes ,,beym deutlichen Denken und Urtheilen fürtreflich beschrieben. Wenn man auf eben diese Weise das Betragen der Seele bey ,,der undeutlichen Erkenntnis und bey den schnellen Urtheilen, ,,welche aus der anschauenden Erkenntnis folgen, bey allerley

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,,Arten der Fälle genau aus einander seßte; so würde dieser Theil „der Philosophie noch sehr erweitert werden". In der erklärenden Psychologie hat Hr. Sulzer einige Aufgaben, die der Bemühungen der Weltweisen würdig sind. Es hat noch niemand ,,erkläret", heißt es (§. 210.),,,wie die Seele ohne merkliches „Nachdenken oder überlegen gewiffe Dinge sehr richtig erkennt, „die durch das långste Nachdenken und sehr deutliche Begriffe ,,nicht könnten erkannt werden. So könnte z. E. kein Mensch durch Nachdenken herausbringen, mit was für einer Geschwin „digkeit, und mit welcher Richtung der Arm zu bewegen sey, ,,um mit einem Stein ein entferntes Ziel zu treffen. Durch ,,die Übung aber kann man zu einer Fertigkeit darin gelangen. „Muß nicht die Seele dabey das alles dunkel einsehen, was sie „nicht deutlich erkennen und berechnen kann? Wie kömmt es, „daß die Seele zweyerley verschiedene Verrichtungen zugleich, eine „durch deutliche, die andere durch dunkele Erkenntnis, sehr gut „verrichten kann? Man kann z. E. im Gehen, oder unter ei,,ner Handarbeit, wozu eine genaue Beobachtung vieler Regeln gehört, sehr deutliche und richtige Untersuchungen über andere ,,Sachen anstellen, ohne daß eine Verrichtung die andere hin,,dert". Verdienen solche Fragen nicht von der einzigen Academie, die eine metaphysische Classe hat, zum Preise aufgegeben zu werden?

62fter Brief.

Sie begnügen sich mit keinem allgemeinen Urtheil? Sie wollen auch wissen, was ich bei Durchlesung der erwähnten Sulzer'schen Schrift gedacht habe? Viel merkwürdiges eben nicht! Sie wissen, die guten Schriftsteller beschäftigen den Leser so angenehm, daß er selten Zeit hat, für sich selbst zu denken. Hier sind die wenigen Anmerkungen, die ich mich erin= nere in währendem Lesen gemacht zu haben.

§. 16. bemerkt Hr. Sulzer: es wäre nüglich, wenn man ,,eine allgemeine philosophische Grammatik hätte, welche Regeln ,,gåbe, nach denen die Vollkommenheit einer Sprache könnte be= ,,urtheilet werden; mit diesen Regeln könnten die, durch den

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