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dadurch abgeschreckt, und die Genies vielmehr angetrieben werden weiter zu gehen. Jene würden durch ihre Mittelmäßigkeit die Wissenschaft nicht sehr mißhandeln, und diese den Überfluß recht genießen, nachdem sie vorher den Mangel recht empfunden.

Freuen Sie sich! Uns ist das Schicksal in diesem Stücke so günstig gewesen, als Baumgarten. Erinnern Sie sich noch, was für ein Buch von Widerlegungen wir fertig hatten, als wir den Wolf das erste Mal durchliefen? Wir waren kaum in der zweiten Hälfte, so fingen wir schon an zu zweifeln. Wir gingen ihn noch einmal durch, und unser Buch ward den Flammen übergeben.

22ster Brief.

Freilich ist es eine Mitursache von dem Verfalle der Me taphysik, daß viele Anhänger des großen Wolf bloße Metaphysiker von Profession seyn wollen. Sie haben einen kleinen Schat von allgemeinen Wahrheiten. Diese ordnen sie nach Belieben; bringen sie bald so, bald anders in Capitel; erklären, schließen und beweisen vielleicht richtig nach der Methode. Man findet aber bei ihnen keine weite Aussichten in andere Wissenschaften, keine fruchtbaren Anschläge, ihre Münze in der gelehrten Republik durchgehends gång und gebe zu machen. Sie graben in reichen Minen, und lassen die Schäße da liegen, wo sie sie gefunden haben.

Auch darin stimme ich Ihnen bei: der Mißbrauch der mas thematischen Begriffe hålt Viele ab, die philosophischen Gründe anzunehmen, die ihnen zu widersprechen scheinen. Jordanus Brunus hat schon bemerkt, die wirkliche Theilbarkeit des Ståtigen in unendlich kleine Theile sei eine fruchtbare Quelle von Irrthümern in der Naturlehre und Weltweisheit. Diese unendliche Theilbarkeit ist ein mathematischer Begriff. Die Mathematiker haben Mühe, ihre Punkte, Linien, Flächen und stätige Körper zu vergessen. Sie sind in ihrer Wissenschaft von fruchtbaren Folgen; daher wollen sie sie als lauter wirkliche Dinge in die Naturlehre und Metaphysik hinübertragen, und entrüsten sich, wenn man ihnen hier das Bürgerrecht versagt. Zu unserer

Zeit sind neue Idole hinzugekommen. Die Unalisten haben neue Erfindungsmittel erdacht, die in ihrer Wissenschaft, der Wahrheit unbeschadet, angenommen werden können und von herrlichem Nugen sind. Sie haben unendliche Größen, unendlichmal unendliche Größen; sie haben ein Verhältniß von nichts zu einer endlichen, von einer endlichen zu einer unendlichen Größe, und sogar ein Verhältniß von nichts zu nichts. Alle diese be= queme Erfindungsmittel in der höhern Mathematik hat man in der Natur gesucht, wo sie nicht anzutreffen sind, und in die Weltweisheit einführen wollen, wo sie zu den abenteuerlichsten Folgerungen Anlaß geben.

Diesen Fehltritt hat man oft begangen. Man hat Begriffe realisirt, die in jener Wissenschaft als bequeme Voraussehungen eingeführt worden sind. Leibnih nannte sie notiones tolerabiliter veras. Sie kommen mit der Wahrheit nicht vollig überein; sie können aber in gewisser Absicht an ihre Stelle gesezt werden, wenn das Falsche, das sie mit sich führen, in Ansehung dieser Absicht keine Veränderung macht. Sie sind also nur zu dulden, so lange sie in ihren Gränzen bleiben; außer denselben aber müssen sie sich nie in das Gefolge der Wahrheiten einschleichen, um Unordnungen anzurichten.

Wenn ich die Aufgabe zu beantworten håtte, wie die Sprache zu Vorurtheilen Anlaß geben kann, so würde ich die gemeine Sprache vielleicht nicht so viel beschuldigen, als die Sprache der Gelehrten. Wie ist man z. B. auf die Thorheit gefallen, die Natur zu vergöttern? Die Gelehrten haben bemerkt, daß die Quelle der Veränderungen in der sichtbaren Welt einer Substanz ähnlich sei: denn sie hat das Fortdauernde sowohl, als die Abwechselungen, die eine Substanz ausmachen. Sie gaben dieser neuen Substanz einen besondern_Namen, nannten sie Natur, und schrieben ihr in besondern Fällen alle Wirkungen der erschaffenen Kräfte zu. Die Erfindung hat ih ren vielfältigen Nußen. Allein man vergaß, daß es nur eine Erfindung sei; man bildete sich unter dem Worte Natur ich weiß nicht was für einen Gögen ein, und sehte ihn endlich auf den Thron der Gottheit.

Zu wie viel seltsamen Folgerungen hat nicht der Begriff vom Stande der Natur Anlaß gegeben, nachdem man ihn sich als einen wirklichen Zustand eingebildet, darin die Menschen einst IV, I.

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gelebt? Und dennoch ist er nichts anders als eine bequeme Er dichtung der Sittenlehre, um die erworbenen Rechtsame, die zugezogenen Pflichten und Obliegenheiten von den ursprünglichen zu trennen. Der Name hat verführt, man hat den abstracten Begriff für etwas wirkliches gehalten.

Ohne so weit zu gehen, bedenken Sie nur, wie nüßlich es in dem gesellschaftlichen Leben der Menschen gewesen, gewisse feltne Metalle zu allgemeinen Zeichen aller Güter und Hab seligkeiten einzusehen, und ihnen einen erdichteten Werth beigu legen. Wohnt ihnen aber kein Erempel bei, daß man diesen erdichteten Werth für wirklich, die Zeichen für die Güter, und durch einen seltsamen Sprung für die Glückseligkeit selbst ge nommen hat?

X. Den 8 März 1759.

23fter Brief.

Die unumstößliche Evidenz in der Mathematik beweist nichts für die allgemeine Wahrheit ihrer Grundsäge. Sie sind unlaug bar, aber nur nach einer gewissen Vorausseßung, die bloß in dem Bezirke der mathematischen Wissenschaften so viel gilt als die strengste Wahrheit. Unser Verstand ist zu eingeschränkt, von allen Eigenschaften der Körper zugleich ohne Verwirrung zu philofophiren. Man hat sie also in der Einbildung trennen müfsen, ob sie gleich in der Natur nie getrennt sind. Die Ausdehnung ist eine Eigenschaft des Körpers, in welcher wir die mehresten Merkmale deutlich unterscheiden können. Der Punkt, die Linie, die Fläche, die Ausmessungen nach der Långe, Dicke und Breite, das Verhältniß, die Gleichheit, die Ähnlichkeit u. f. w. find lauter Bestimmungen der Ausdehnung, die wir deutlich genug wahrnehmen können, wenn wir uns die Ausdehnung im abstracten Begriffe als eine Substanz vorstellen wollen. Diese deutlichen Merkmale geben Gelegenheit zu den allereinfachsten Grundsäßen; und hierauf beruht die große Evidenz der mathematischen Wissenschaften.

Die Mechaniker haben den Körper von einer andern Seite betrachtet. Sie haben die Beweglichkeit von seinen übrigen Eigenschaften getrennt, und sogar die Ausdehnung bei Seite geseht. Man weiß, daß sie öfters den Körper ansehen, als wäre er in einen einzigen Punkt concentrirt. Da sich die Bewegung durch Linien ausmessen låßt, so haben sie sich der Grundsäke der Mathematiker bedienen können; daher geben sie in Ansehung der Evidenz den mathematischen Wissenschaften nichts nach.

In der Ontologie sondert man auch die Zusammenfeßung von den übrigen Eigenschaften des Körpers ab; man formirt Grundsäge, und beweist nach der Långe, was einem zusammengesetzten Wesen zukommen müsse. Allein die Merkmale der Zusammensehung sind so deutlich, so einleuchtend nicht, als die Merkmale der Ausdehnung; daher fehlt der Lehre von der Zufammenfeßung (componibilitas) die augenscheinliche Überzeugung, daran sich die Mathematik unterscheidet.

Will man aber von dem Körper überhaupt philosophiren, so müssen die Wahrheiten mit einander verglichen werden, die man von seinen Eigenschaften einzeln herausgebracht. Der Mechanikus muß die Ausdehnung, und der Meßkünstler sowohl die Beweglichkeit als das Wesen der Zusammensehung nicht in Zweifel ziehen wollen; d. h. er muß seine Absonderungen nicht realisiren, er muß nicht mehr darauf dringen, daß eine ståtige Ausdehnung nach der Länge, Breite und Dicke in der Natur vorhanden sei.

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Die Ausdehnung nach der Länge, Breite und Dicke bringt mich auf eine Erklärung vom mathematischen Körper, die ich vor einiger Zeit in einem arabischen Weltweisen gelesen. Ich werde sie Ihnen hierher sehen, weil ich sie leicht vergessen könnte. Sie wissen, daß die gemeine Erklärung nicht recht deutlich ist. Hören Sie nun, wie sich mein Araber ausdrückt. Es ist Abu Chamed in seinen Lehrmeinungen der Weltweisen". Eine Ausdehnung", sagt er, innerhalb welcher man ,,aus einem einzigen Punkte drei Linien ziehen kann, die wechfelsweise auf einander senkrecht stehen, wird ein Körper, die ,,Linien aber Långe, Breite und Dicke genannt". Was dünkt Ihnen von dieser Erklärung? Sie seht nichts als Punkte, Linien und rechte Winkel voraus, die man alle nach mathematischen Begriffen, unabhängig von der Definition des Körpers,

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erklåren kann. Macht Sie diese Erklärung nicht bald begierig meinen alten Araber nåher kennen zu lernen?

24ster Brief.

Nichts von dem Araber! unsere neueren Weltweisen müssen vorangehen, denn unsere Zeiten sind ålter. Sie werden nunmehr Reinhard's Examen de l'Optimisme vermuthlich durchgelesen haben. Gestehen Sie mir, so wenig Wolfianer Sie auch seyn mögen, sind nicht seine stärksten Einwürfe, auf die er sich am meisten zu gute thut, fehlerhafte Versehungen der Begriffe aus der Mathematik in die Philosophie? Ja er hat sich nicht einmal die Mühe gegeben, in die Tiefen der Algebra einzudringen. Die Regeln der gemeinen Rechenkunst haben ihm Gründe an die Hand gegeben, verschiedene von Leibnizens Sågen über den Haufen zu werfen; zu beweisen, daß in Ansehung einer einzigen Vollkommenheit zwei oder mehrere völlig gleichgültige Ausnahmen statt fånden, daß in diesem Falle der Zustand einer völligen Gleichgültigkeit vorhanden sei, den Leibnig für unmöglich hielt; und daraus den Schluß zu ziehen, daß der Wille eines vernünftigen Wesens nicht allezeit durch die Regel der Vollkommenheit allein gelenkt werden könne. Lassen Sie sich die Buchstaben A und B nicht irre machen, die bisweilen in seiner Abhandlung vorkommen. Es ist nichts als gemeine Arithmetik. Er schließt ungefähr folgendergestalt *): ,,Man nenne die Hauptregel der Vollkommenheit A, eine ihr ,,untergeordnete Regel a; den Mangel, welcher entsteht, wenn „die Ausnahme von der Regel A geschieht, B; so wie den von ,,Seiten der untergeordneten Regel a entstehenden b. Nun vers halte sich die Quantität der Vollkommenheit in A zu der in ,,a=3:1; der Mangel B in Ansehung der Regel A=1:9; ,,der Mangel b in Ansehung der Regel a=1:3". In diesem Falle, sagt Hr. Reinhard, ist es völlig einerlei, von

") 6. 27.

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