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hafte Ullorxa, wenn es auch wegen Unleserlichkeit der Schriftzüge etwas im Druck entstellt sein sollte, doch von den Freunden Shakspeare's, die das Stück entweder nach dem Manuscript des Dichters oder zum wenigsten nach einem Theatermanuscript herausgaben, in demselben müsse vorgefunden worden sein, und dass es doch nicht ganz ohne alle Absicht von dem Dichter hinzugefügt sein könne. Lässt sich nun diesem seltsamen Ullorxa gar keine Deutung abgewinnen und gar keine Absicht bei diesem Einschiebsel ausfindig machen? Um diese Frage zu beantworten, ist es erforderlich, Inhalt und Zusammenhang der Stelle etwas genauer in's Auge zu fassen. Timon ist von seinen vermeintlichen Freunden, die er früher glänzend bewirthet und reich beschenkt hatte, in seiner Geldverlegenheit im Stiche gelassen worden; um sich an ihnen zu rächen, will er sie noch einmal zu einem anscheinend prunkvollen Gelage einladen, und dass keiner dieser schurkischen Freunde fehle, dass sie alle insgesammt noch einmal bei ihm erscheinen sollen, damit er sie wegen ihrer Nichtswürdigkeit verhöhne, wird wiederholt und mit Nachdruck hervorgehoben. Timon befiehlt daher seinem Haushofmeister Flavius nicht allein die oben angeführten Worte: Go, bid all my friends again . . . all; sondern auf die Einwendung des Flavius erklärt er von Neuem: invite them all, und spricht überdies von einer Fluth von Schuften," die er bei sich sehen will: let in the tide of knaves once more. In einer spätern Scene (Act III, Sc. 6) erscheint nun wirklich eine zahlreiche Gesellschaft von Gästen: ausser drei Herren, die sich zu Anfange der Scene unterhalten, wird am Schlusse derselben noch ein vierter redend eingeführt, der bei der eiligen Flucht, welche die Gäste ergreifen, Mütze und Mantel verloren hat; ausserdem heisst es in der Mitte der Scene einmal ausdrücklich: Some speak, und unmittelbar darauf: Some other. Kurz, wir haben uns einen mit Gästen reichgefüllten Festsaal zu denken; und daher reichen für die Einladung die drei an unserer Stelle genannten Namen Lucius, Lucullus und Sempronius offenbar lange nicht hin, sondern ausser diesen drei, welche Timon voranstellt, weil sie uns in den drei ersten Scenen des dritten Actes als treulose, undankbare Freunde besonders vorgeführt werden, dürften wir noch eine Anzahl anderer Namen

erwarten, damit eine ähnliche Gesellschaft zusammenkomme, wie sie uns Act 1, Scene 2 vorgeführt wird. Selbst wenn in dem, zu den drei falschen Freunden hinzugefügten Ullorxa der entstellte Name eines vierten Freundes enthalten sein sollte, so würde dies nicht genügen, da wir (abgesehen von Alcibiades, den wir zur Zeit der zweiten Einladung schon als verbannt zu denken haben) unter den in der 2. Scene des 1. Acts Eingeladenen auch mehrere athenische Senatoren und namentlich einen gewissen dem Timon besonders verpflichteten Ventidius finden, welche sich ebenfalls als schlechte Freunde erwiesen haben, da Timon gegen Ende des 2. Acts auch an sie Diener um ein Anlehen aussendet, die aber eben so wenig als die an Lucius, Lucullus und Sempronius geschickten etwas ausrichten. Sehr unwahrscheinlich also ist es, dass Shakspeare einen sonst gar nicht erwähnten Freund namhaft gemacht, den vor allen andern durch Undankbarkeit ausgezeichneten Ventidius dagegen vergessen haben sollte. Ich stelle mir daher vor, dass Shakspeare die Absicht hatte, den Timon eine Reihe von Namen nennen zu lassen, welche hinreichend war, die Vorstellung einer ansehnlichen Gastgesellschaft zu erwecken (also im Ganzen etwa 7 bis 10 Namen), dass ihm aber ausser den drei, in den so eben vorangegangenen Scenen vorgekommenen Lucius, Lucullus und Sempronius nicht gleich genug andere passende Namen einfielen, und dass er, um sich mit der Auffindung solcher Namen nicht länger aufzuhalten, dies dem Schauspieler überlassen und durch eine hinter dem Namen des Sempronius beigefügte Bemerkung andeuten wollte, ungefähr wie viele Namen überhaupt genannt werden sollten. In dem Vllorxa sehe ich also nichts anderes als die Zahl der Namen, deren Aufzählung dem Dichter erforderlich erschien, und ich löse das geheimnissvolle Vllorxa demnach auf in VII or X, das ist Seven or ten. Das römische Zahlzeichen für 7 konnte leicht für die Buchstaben Vll, und das für 10 für ein X angesehen werden, die drei Worte aber, wenn sie dicht nebeneinander geschrieben waren, für ein einziges Wort, und zwar für ein Nomen proprium wie die drei vorhergehenden gehalten werden, wofür die neueren Bearbeiter des Shakspeare es auch in der That angesehen haben, wie denn z. B. Steevens das Ullorxa

für einen weder in Athen noch in Rom gültigen Namen erklärt (a name unacknowledged by Athens or Rome), und Collier von der grossen Freiheit spricht, die der Dichter sich bei den Namen vieler in unserm Stücke auftretenden Personen erlaubt habe, um dadurch zu rechtfertigen, dass er in seiner Ausgabe das Ullorxa hinter den drei andern Eigennamen in den Text aufgenommen hat. Das hinter dem X folgende a mag aber später entweder absichtlich hinzugefügt worden sein, um dem vermeintlichen Nomen proprium doch wenigstens eine Art antiker Endung (entsprechend den Namen Casca, Dolabella, Agrippa, Bestia und anderen) zu geben, oder auch — was mir noch wahrscheinlicher ist durch eine zufällige Verdoppelung des a des folgenden Wortes all entstanden sein. Unter Voraussetzung der Richtigkeit dieser Deutung dürfte alsdann das all nicht den Vers hinter Sempronius schliessen, sondern der Vers müsste mit dem Namen Sempronius selbst endigen, und die Endung ius in demselben müsste nicht einsilbig sondern zweisilbig gelesen werden, wie denn in der That die Endung ius in den Eigennamen bei Shakspeare nach Bedürfniss des Verses bald eine Silbe bald zwei Silben bildet. So gebraucht Shakspeare in unserem Stücke den Namen Lucius bald zweisilbig, wie z. B. an unserer Stelle und Act III, Scene 3 zu Anfange: He might have tried lord Lucius or Lucullus, bald dreisilbig, wie Act III, Scene 4 zu Anfang: The like to you, kind Varro. Lucius; so Ventidius in einer und derselben Scene (Act III, Scene 3) bald viersilbig, mit dem Tone auf der zweiten Silbe

And now Ventídius is wealthy too,

bald dreisilbig mit dem Tone auf der ersten Silbe:

Has Véntidius and Lúcullus denied him?

Desgleichen wird in Julius Caesar (Act I, Scene 2) in zwei unmittelbar aufeinander folgenden Versen der Name Antonius das erste Mal dreisilbig, das zweite Mal viersilbig gebraucht: Stand you directly in Antonius' way,

When he doth run his course. Antonius!

demnach hätte nach meinem Dafürhalten Shakspeare an unserer Stelle ursprünglich geschrieben:

Lucius, Lucullus, and Sempronius
vii or x: all,

und hinter dem mit Sempronius schliessenden Versen würden nach der Absicht des Dichters etwa zwei Verse mit irgend welchen beliebigen Namen des classischen Alterthums, und am Schlusse derselben das Wörtchen all haben folgen sollen, so dass also das Ganze etwa hätte lauten können:

Lucius, Lucullus and Sempronius,

Ventidius, Marcellus, Lentulus,

Artemidorus, and Euphronius; all.

Einigen der Herausgeber und Kritiker Shakspeare's ist ein gewisser Mangel an Vollendung, etwas Unfertiges an unserm Drama, welches jedenfalls eines der spätesten Werke des grossen Dichters war, aufgefallen. Im Anschluss an die von Coleridge in seinen Vorlesungen geäusserte Ansicht bemerkt Collier (Shakspeare's Works, Vol. VI. p. 501) darüber: There is an apparent want of finish about some portions of „Timon of Athens," while others are elaborately wrought. In his lectures in 1815, Coleridge dwelt upon this discordance of style at considerable length; und Gervinus (Shakspeare, Band IV, S. 166) sagt: „Die Composition ist in der alten Gründlichkeit zu geistiger Einheit gebunden, aber in einigen Punkten locker und wie unfertig," und bringt dafür einzelne Belege aus dem Drama bei. Was diese Männer an der Behandlung des Stofflichen mehr im Grossen und Ganzen herausgefühlt haben, das erhält durch unsere Deutung des Ullorxa auch in einem einzelnen, ganz äusserlichen Falle eine merkwürdige Bestätigung.

Die zweite zur Besprechung ausgewählte Stelle ist enthalten in Twelfth-Night, or: What you will, Act II, Scene 5, wo Malvolio folgende Worte spricht: There is example for't: the lady of the Strachy married the yeoman of the wardrobe. Wie in der vorigen Stelle Ullorxa,, so ist hier Strachy völlig unverständlich.

Bei der Entstehung dieses Wortes lassen sich zwei Möglichkeiten denken. Entweder wurde das Stück,,Was ihr wollt," welches ebenfalls wie Timon in keiner Quartausgabe vorhanden ist, sondern zuerst in der Folioausgabe von 1623 erschien, wirk

lich nach der Urschrift Shakspeare's, welche in den Händen seiner Freunde Heminge und Condell, der Herausgeber der Shakspeare'schen Dramen, sich befand, abgedruckt, wie die Angabe auf dem Titelblatt: „Published according to the True Original Copies" vermuthen lässt: und dann konnte der Setzer das in der Handschrift Shakspeare's undeutlich geschriebene Wort nicht ordentlich lesen und setzte, unbekümmert um den Sinn, was er eben aus den unleserlichen Zügen herauszuerkennen vermochte, was aber weder im Englischen noch in einer andern. Sprache ein Wort ist. Oder - was wahrscheinlicher ist die Urschrift Shakspeare's hatte sich nicht erhalten, und die Herausgeber waren genöthigt, das Stück nach einer bei dem Globetheater aufbewahrten Abschrift abdrucken zu lassen. Hier ist nun wieder ein doppelter Fall möglich: entweder stand in dem Theatermanuscripte das richtige, von Shakspeare herrührende Wort, und der Setzer versah sich wegen Unleserlichkeit der Handschrift, oder der Fehler fand sich schon in dem beim Druck zu Grunde gelegten Manuscripte vor und beruhte, je nachdem das Manuscript nach einem Dictate nachgeschrieben oder von einem vorliegenden Original abgeschrieben war, auf einem Irrthume des Ohres oder des Auges, der Setzer aber setzte das Wort eben so falsch wie er es in dem Manuscripte las. So viel ist aber jedenfalls klar: der Setzer hat etwas Falsches aus dem Manuscripte herausgelesen, die Freunde Shakspeare's aber, welche die Herausgabe der Dramen besorgten, merkten entweder den Druckfehler aus Unachtsamkeit gar nicht, oder wussten, wenn sie ihn merkten, doch selbst keine Abhülfe dafür, und das von Shakspeare herrührende Wort muss ein dem uns überlieferten im Klange oder in den Schriftzügen möglichst nahe kommendes gewesen sein. Noch ist zu erwähnen, dass das Wort Strachy in der Folioausgabe mit Cursivschrift, deren sie sich regelmässig im Texte nur bei Eigennamen, Fremdwörtern oder Citaten bedient, gedruckt ist, und dass also das Wort in den Augen des Setzers und der Herausgeber nicht für ein gewöhnliches Wort, sondern für ein Nomen proprium oder Fremdwort gegolten hat, an welchen Fingerzeig wir uns bei der Aufsuchung des an die Stelle zu setzenden Wortes möglichst zu halten haben. Welches Wort nun aber das ursprüngliche, vom

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