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Zur Feier des

funfzigjährigen Stiftungsfestes

des

Königl. Gymnasiums zu Erfurt

am

2. Juni 1870

ladet ehrerbietigst ein

der Gymnasialdirector Prof. Dr. Dietrich.

INHALT.

Wissenschaftliche Abhandlungen. With..

Edu

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Professor Dr. Buchholz: Ueber die homerische Naturanschauung.

Oberlehrer Dr. Erwin Kaiser: Formeln für die Berechnung einer Kometenbahn.
Oberlehrer Dr. Alfred Breysig: Arati Genus.

Gymnasiallehrer Alexander Hoppe: Ueber das griechische zweite Perfect.
Gymnasiallehrer Volkmar Hölzer: De Pauli glossa, quae est sub verbo Satura.

Zur Geschichte des Königl. Gymnasiums zu Erfurt.

1. Vorgeschichte. Das Erfurter Rathsgymnasium und seine Zustände im 19. Jahr-
hundert bis 1820. Von Prof. Dr. Herm. Weissenborn.

2. Uebersicht der Geschichte des Königl. Gymnasiums von 1820 bis Ostern 1869.
Vom Director Dr. Dietrich.

albert

3. Verzeichniss der Abiturienten, des Königl. Gymnasiums zu Erfurt in den Jahren
1820 bis 1870. Vom Oberlehrer Dr. Rudolphi.

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4. Schulnachrichten über die Zeit von Ostern 1869 bis Mai 1870. Vom Director.

Erfurt 1870.

Druck von Gerhardt & Schreiber.

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Ueber die homerische Naturanschauung.

Vom

Professor Dr. Buchholz.

Vorbemerkung:

Diese Abhandlung gehört ursprünglich dem 2ten Bande meiner demnächst erscheinenden,,homerischen Realien" an; da sie indess ein in sich abgeschlossenes Ganzes bildet, so habe ich kein Bedenken getragen, sie der vorliegenden Festschrift als Beitrag einzuverleiben.

§. 1. Der Begriff, welchen wir mit dem Ausdrucke Natur verbinden, insofern wir darunter den Complex aller Erscheinungen verstehen, welche uns in der sinnlichen Welt entgegentreten, ist dem homerischen Griechen völlig unbekannt1). Für ihn ist die Natur vielmehr eine bunte Mannigfaltigkeit von concreten Erscheinungen, in denen er eben so viele Manifestationen seiner Götter erblickt. Der Baum, in welchem die Dryade, der Quell, in welchem die Najade wohnt, das Meer, in dessen Tiefe Poseidon, Amphitrite und Nereus mit den Nereiden schalten, wie der Aether, in welchem Zeus thront, treten seinen beobachtenden Augen wie eben so viele isolirte Erscheinungen entgegen, welche durch nichts verbunden sind, und denen die höhere Einheit fehlt. Die Erscheinungswelt zerspaltet sich für ihn in ebenso viele getrennte Gebiete, als göttliche Individuen vorhanden sind, deren jedes seine ihm eigenthümliche Sphäre durchdringt und beherrscht. Indem also die Natur unter dem Einflusse zahlreicher Gottheiten steht, deren unmittelbares Walten in allen Naturgebieten Homer durch die Epitheta δίος und ἱερός ausdrückt (δια χθών), δια ἅλς 3), ἱερὸς ἰχθύς 4), δῖος ποταμός), διιπετὴς ποταμός 6), δια αἰθήρα), δία ήώς 8) u. dgl. m.), fehlt der homerischen Natur nicht nur jede Einheit, sondern auch jede Selbstständigkeit. Sie kennt kein eigenes Gesetz, kein Naturgebot, sondern die Gottheit ist es, deren Willen alle Gebiete der Natur untergeordnet sind.

1) púбis × 303 bedeutet nur die natürliche Beschaffenheit, den Wuchs der Pflanze, und xóouos in der Bedeutung des Welt systems als eines geordneten Ganzen gehört der späteren Philosophie an. S. Paschke, über die homer. Naturanschauung. Progr. des Gymn. zu Stettin 1848/49. S. 5. — 2) 347. & 532. Die Citate beziehen sich auf die Bäumlein'sche Ausgabe. (Bernhard Tauchnitz. Leipzig, 1858.) 3) A 141. B 152. 76. O 161. ℗ 219. 4) II 407. — 5) B 522. M 21.

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Allerdings scheint der Dichter hie und da der Natur selbstständige Regungen zuzuschreiben, wie wenn das Meer sich vor dem Poseidon öffnet und die Ungeheuer der Tiefe herbeihüpfen, indem sie ihren Herrscher erkennen 1); aber hierin zeigt sich eben nur die Unterwürfigkeit des Elements und seiner Bewohner, insofern sie ihrem natürlichen Herrn huldigen.

Völlig theilnahmlos und unselbstthätig aber steht die Natur dem Menschen gegenüber. Während, wie Pazschke bemerkt 2), im germanischen Epos die Natur nicht selten den Schmerz des Menschen theilt oder ihm mitleidsvoll Hülfe schenkt, findet in der homerischen Welt der Mensch bei der Natur nicht die geringste Sympathie. Wo dies scheinbar der Fall ist, geschieht es unter dem Einflusse einer Gottheit, wie wenn beim Falle des Sarpedon auf das Gebot seines trauernden Vaters, des Zeus, blutiger Thau fällt. 3)

§. 2. Unter den Erscheinungen der drei Naturreiche haben die der Thierwelt vorzugsweise von Seiten des Dichters Berücksichtigung gefunden, während die Pflanzenwelt sehr in den Hintergrund tritt. Und dies ist in der Natur der Sache begründet: denn einmal fordern die scharf markirten Gestalten und die klar hervortretenden Gruppen der Thierwelt ungleich mehr zur Beobachtung auf, als die nur für den strengeren Forscherblick unterscheidbaren Erscheinungen und Gruppen der Pflanzenwelt; sodann herrscht in der Thierwelt eine rastlose Bewegung, ein reges Leben und Treiben, wie es dem thatkräftigen Geiste des heroischen Zeitalters zusagte, während die Pflanze, die still und friedlich im Verborgenen sich entwickelt, für denselben weit weniger Anziehendes hatte, als für die üppig schwelgende Phantasie des Indiers, wie Pazschke treffend bemerkt 4). Ueberdies tritt die Thierwelt. schon an und für sich zu dem Menschen in eine sehr nahe und enge Beziehung: die Hausthiere sind seine vertrauten Genossen; seine Rosse sind im Kriege und auf Reisen seine unzertrennlichen Begleiter, und die Thiere des Waldes haben für ihn als Jäger das höchste Interesse. Kein Wunder daher, wenn die Thierwelt in den homerischen Gesängen eine so hervorragende Rolle spielt, während nur selten Erscheinungen der Pflanzenwelt, wie die im Walde knospenden und wiederabfallenden Blätter, der sein Haupt senkende Mohn oder die vom Orcane durchbrausten Wipfel der Bäume, vor die Phantasie des Dichters treten.

§. 3. Was die Beobachtung der Thierwelt bei Homer im Einzelnen betrifft, so ist es wunderbar, wie unendlich viele Züge derselbe dem Thierleben abgelauscht hat, und wie er dieselben in Beziehung zum Menschen zu setzen weiss. Insbesondere tritt uns dies in den Gleichnissen entgegen.). Zunächst sind es menschliche Handlungen, welche durch Vorgänge aus der Thierwelt veranschaulicht werden. So wird das Dahintreiben der schiffbrüchigen Gefährten des Odysseus auf den Meereswogen mit dem Schwimmen der Seekrähen verglichen 6); in der

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1) Ν 27: ἄταλλε δὲ κήτε ὑπ' αὐτοῦ ¦ πάντοθεν ἐκ κευθμῶν, οὐδ ̓ ἠγνοίησεν ἄνακτα vydoovvy dẻ đáλa66a dilótato. 2) Ueber die homer. Naturanschauung, S. 5 unten. γηθοσύνῃ θάλασσα διίστατο. 3) II 459 f. 4) Ueber die homer. Naturansch. S. 24. 5) Ueber diese vgl. u. A.: Hegel, Aesthetik 1, S. 527. III, S. 278. J. J. Wagner: Homer und Hesiod, ein Versuch über das griechische Alterthum. Ulm, stettin'sche Verlagsbuchhandlung. 1850. S. 14 ff. 6) μ 418: οἱ δὲ κορώνῃσιν ἔκελοι περὶ νῆα μέλαιναν | κύμασιν ἐμφορέοντο, θεὸς δ ̓ ἀποαίνυτο νόστον.

Dolonie wird eine Parallele gezogen zwischen dem die thrakischen Krieger des Rhesos mordenden Diomedes und einem Löwen, der grimmigen Muthes sich auf Ziegen und Schafe stürzt '); der zwischen den Schaaren der Krieger einherschreitende Odysseus wird mit einem Widder verglichen, der seine Heerde durchwandelt 2) u. d. m. Der Dichter benutzt also in den Gleichnissen, wie man sieht, kleine Scenen aus dem Leben der Thierwelt zur Veranschaulichung menschlicher Handlungen, als deren Gegen bild sie gleichsam erscheinen; so jedoch, dass immer nur einzelne, isolirte Handlungen eines Menschen mit denen eines Thieres parallelisirt werden. Will er dagegen das ganze Wesen eines Menschen schildern, z. B. männliche Kraft und Schönheit, so vergleicht er ihn mit den Göttern, weil er in der Natur nichts dem Menschen Adäquates findet. 3)

Jedenfalls tritt uns in den homerischen Gleichnissen der erste Versuch entgegen, menschliches Thun durch Bilder des Thierlebens zu veranschaulichen. Ein enormer Fortschritt in dieser Richtung, der aber erst einer späteren Zeit vorbehalten war, ist die symbolisirende Thierfabel, welche menschliche Charaktere unter der Hülle thierischer Gestalten versinnlicht, ein Fortschritt, den Archilochos vorbereitete, indem er in seinen Gedichten aivovs anbrachte und die Charactere der Thiere typisch fixirte, der aber erst durch Aesop (und weiterhin durch Babrios) zur wirklichen Vollendung gedieh. Erst nach diesem Vorgange war in späteren Jahrhunderten die Entwicklung des germanischen Thierepos möglich, welches die griechische Thierfabel zur Voraussetzung hat. Dem Homer aber liegt eine solche symbolisirende Richtung fern; er begnügt sich, wie es bei seiner einfachen Naturanschauung natürlich ist, menschliche Handlungen durch einfache Vorgänge aus dem Thierleben zu versinnlichen, um die poetische Darstellung lebendiger zu machen. Es sind aber auch fast eben nur menschliche Handlungen, welche der Dichter durch Gleichnisse aus der Thierwelt veranschaulicht; weit seltener sind es menschliche Seelenzustände und Affecte, welche er durch solche Gleichnisse lebendiger darzustellen sucht. So wird die unerschütterliche Ausdauer, mit welcher die Lapithen die Troer abwehren, mit dem Muthe von Bienen und Wespen verglichen, welche ihre Brut vertheidigen *); dem Menelaos wird der Muth einer Fliege zugeschrieben"); der Muth des den Patroklos vertheidigenden Aias wird mit dem des Löwen verglichen, der für seine Jungen kämpft ); Achilleus vergleicht die zahllosen Sorgen und Mühen, welche er für die Achäer ausgestanden hat, mit der Sorge eines Vogels für seine neugefiederte Brut); Telemachos und Odysseus

1)Κ 485: ὡς δὲ λέων μήλοισιν ἀσημάντοισιν ἐπελθών, | αἴγεσιν ἢ οἴεσσι, κακὰ φρονέων ἐνορούσῃ, | ὡς μὲν Θρήικας ἄνδρας ἐπώχετο Τυδέος υιός, ὄφρα δυώδεκ ἔπεφνεν. – 2) Γ 196: αὐτὸς δὲ (Οδυσσεύς) κτίλος ὡς ἐπιπωλεῖται στίχας ἀνδρῶν. 3) Vergl. Schnaase, Gesch. der bildenden Künste bei den Alten II, S. 137. Pazschke, über die homer. Natur anschauung. S. 25. - 4) Μ 167: οἱ δ ̓, ὥστε σφήκες μέσον αἰόλοι ἠὲ μέλισσαι | οἰκία ποιήσωνται ὁδῷ ἔπι παιπαλοέσσῃ, | οὐδ ̓ ἀπολείπουσιν κοῖλον δόμον, ἀλλὰ μένοντες | ἄνδρας θηρητήρας ἀμύνονται περὶ τέκνων, ¦ ὡς οἵδ ̓ οὐκ ἐθέλουσι πυλάων καὶ δύ ̓ ἐόντε | χάσσασθαι πρίν γ' ἠὲ κατακτάμεν ἠὲ ἁλῶναι. 5) Ρ 570: καί οἱ (Μενελάω) μυίης θάρσος ἐνὶ στήθεσσιν ἐνῆκεν. — *) P 132: Αἴας δ ̓ ἀμφὶ Μενοιτιάδῃ σάκος εὐρὺ καλύψας | ἑστήκειν ὥς τίς τε λέων περί οἷσι τέκεσσιν κτέ. — 1) 1 323. ὡς δ ̓ ὄρνις ἀπτῆσι νεοσσοῖσι προφέρῃσιν μάστακ, ἐπεί κε λάβῃσι, κακῶς δ ̓ ἄρα οἱ πέλει αὐτῇ, | ὡς καὶ ἐγὼ πολλὰς μὲν ἀΰπνους νύκτας ἴαυον κτέ.

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