Page images
PDF
EPUB

lehnen. Man beachte die für ihn so charakteristische Bemerkung bei Gelegenheit eines Briefes von Agnes: „Sie gab mir keinen Rat." Nun will uns der Dichter glauben machen, dafs das Resultat dieser kläglichen Ehe ein berühmter Romanschriftsteller geworden sei. Seinen von den Eltern ererbten Anlagen gemäss war unser schriftstellerischer Held wohl im stande, Naturscenerie und Hintergrund ausführlich und sorgfältig zu malen; doch wir schütteln ungläubig den Kopf, wenn wir uns den Schützling unseres Dichters als den Verfasser von „Dombey und Sohn", als den Schöpfer einer Edith und eines Carker denken sollen.

Der Verfasser jenes Werkes, der Schöpfer dieser zwei Personen, ist Dickens, der Sohn des talentvollen Micawber und der excentrischen Frau Nickleby. Dickens, als Micawbers Sohn, konnte sich wohl als Humorist über die Dinge dieser Welt erheben und mit feiner Ironie über Pickwick, Nicholas Nickleby und Dombey schweben; der naive, an der Oberfläche, verweilende Copperfield konnte nur die Gegenstände und Situationen aufzählen, beschreiben und in denselben aufgehen. Denken wir uns Dickens als den Sohn einer excentrischen Mutter, so motivieren wir genügend seine grundlose Trennung von einer kinderreichen Gattin.

Wir sehen also, dafs Copperfield und Dickens zwei ganz verschiedene Personen sind; der eine ist naiv, der andere Humorist; der eine geht in den toten Dingen auf, ist ihnen selbst durch eine gewisse Anspruchslosigkeit verwandt und will nur neben ihnen existieren, der andere sieht die Welt von einer hohen Warte aus und wirft sich zum Richter derselben auf. Der Naive kann wohl zu Zeiten der Aufregung sentimental werden, d. h. in die Dinge nervös einzudringen suchen. Der Naive, obwohl zu Zeiten Sentimentale, wird jedoch nie als Humorist, als Richter über den menschlichen Situationen schweben.

Wenn also Dickens eine Art Selbstbiographie beabsichtigte, so mufste er seinen Helden nicht nur in einer anderen Mulde, sondern auch aus einem anderen Stoffe schmelzen. Wollte er jedoch das ihm unbekannte Naive zum Gegenstande seines Schaffens machen, so mufste er als wahrer Künstler das eigene

„Ich ganz unterdrücken, und dieses ist eben die Klippe, an welcher die meisten Humoristen, Shakespeare ausgenommen, scheitern mufsten. Da der Dichter von dem Wunsche beseelt war, der Nachwelt vieles aus seinem Leben mitzuteilen, anderes dagegen zu verschweigen und durch die Erlebnisse einer zweiten ganz fremdartigen Figur zu ersetzen, entstand eine Art Verschiebung und Verwischung, welche oft sehr störend wirkt. Der Humorist Dickens führt das naive Kind Copperfield bei der Hand; das unmündige Kind kann uns nur Mitleid einflöfsen, sein talentvoller Führer jedoch mit Bewunderung erfüllen. Was das Kind bei den verschiedenen Situationen sagt, ist simpel; was der Dichter über diese kindlichen Anschauungen denkt, ist genial. Unser Kind ist zuweilen naiv, zuweilen sentimental, zuweilen aber auch mit dem Schriftsteller humoristisch.

Das gänzliche Mifslingen der Figur eines Copperfield (Dickens), eines Skimpole (Leigh Hunt) und eines Boythorn (Savage Landor) beweist wiederum aufs schlagendste, dafs das Versteckenspielen mit litterarischen Personen ein ebenso grofses Vergehen ist als Gutzkows Versteckenspiel mit historischen Persönlichkeiten („Die Ritter vom Geist." 1850). Dieses Versteckenspielen zwischen dem Dichter und einem ungleich gearteten Helden in Selbstbiographien hat jedoch noch ganz andere Nachteile im Gefolge. Der dem Genie mit Recht gebührende Ruhm leidet, sobald der Dichter denselben auf seinen unmündigen Schützling überträgt, und wenn Copperfield uns mit der Wahrhaftigkeit eines Autors mitteilt, dafs er ein „Glückspilz" sei, dessen Name „einige Berühmtheit" habe, so glauben wir nicht nur in dem naiven Jünglinge, sondern auch in dem Schriftsteller eine mit der Naivität sowohl, als auch mit der wahren Gröfse unverträgliche Grofsmannssucht zu entdecken.

In dem altklugen Paul Dombey, einer Nebenfigur, erkannten wir den Repräsentanten einer bestimmten Klasse von Kindern; David Copperfield sollte dagegen als Hauptfigur nicht generelle, sondern individuelle Züge entfalten: dort handelt es sich um eine Konzentration humoristischer Streiflichter, hier um eingehende, stufenweise, die ganze leibliche wie geistige Entwickelung ins Auge fassende Erfahrungen oder einzelne

Akte des „Erkennens". Die Frage, ob nun David Copperfield das volle runde Bild eines Kindes entfalten könne und entfalte, müssen wir entschieden mit „Nein" beantworten. Die Schilderung der Entwickelung eines geschwisterlosen Kindes wird stets eine einseitige sein, indem wir in ihr das wesentliche Moment des Kinderspiels vermissen. Davids Bilderbuch mit seinen Krokodilen kann nur ein dürftiges Surrogat für Kinderreigen und Bubenstreiche sein. Wir bezeichneten die Auffindung individueller Züge als „Akte des Erkennens". Wenn nun überhaupt seit Fielding die englische Litteratur weniger Individuen als Typen produziert, kann man von einem Humoristen, dessen Herz bei Schöpfung jeder Figur und besonders in einer romanhaften Selbstbiographie eine zu laute Stimme spricht, am allerwenigsten diese Akte des klaren Erkennens erwarten. Um diese zusammenzufaseen, mufs man ein pedantisch gewissenhafter Pädagog sein das Werk desselben

wird allerdings nur Wissenschaft, nicht Kunst entfalten, oder aber den kühlen Hinterkopf Lessings, des Figuren-Mathematikers, besitzen. Wohl kennen wir Schriften der ersteren Art; ein Werk, welches diese pädagogische Wissenschaft in künstlerische Form gekleidet hätte, haben jedoch weder Lessing noch andere verwandte Geister angestrebt. Hier findet sich also nicht nur, wie Taine meint, eine Lücke in der französischen, sondern in der nationalen Weltlitteratur. Bei der Schöpfung eines solchen Musterkindes mufs die geschickte Verschmelzung des Idealen mit dem Realen die gröfsten Schwierigkeiten bieten; die so geschaffene Figur würde dann das Ideal von einem Kinde, den Engel erkennen lassen und zugleich der Wirklichkeit entsprechen, indem sie einen kleinen, bös beanlagten Egoisten repräsentiert, und David Copperfield, das pathetischhumoristische Zérrbild, dürfte am allerwenigsten diese Lücke schliefsen.

Wenn wir nun Dickens' Kinderfiguren ins Auge fassen, so gebührt Paul Dombey vor Copperfield der Vorzug. Dort zeichnete der kühlere, dem Gegenstande ferner stehende Satirist, hier macht das lauter pochende Herz den zeichnenden Griffel des Humoristen unsicher; dort wollte er nur eine Type reproduzieren, hier wollten „Akte des Erkennens" ein Individuum

zu stande bringen. Diese anfänglich gestellte Aufgabe liefs unser Nachfolger Fieldings nur zu bald aus den Augen; der schwächliche, nervöse David wurde bald zum zweiten Abklatsch eines Tristram Shandy, und so entstand das Zerrbild Copperfield, halb ein Individuum und halb eine Type.

Wenn der Verfasser seinen jugendlichen Helden auf einer bestimmten Station seines Lebens begleitet, so hat er zwei Aufgaben zu lösen: Sein Schützling wird erstens am Ende der Erzählung in irgend einer Lebenssphäre untergebracht worden sein, und zweitens mufs im Laufe der Erzählung der Entwickelungsgang nachgewiesen werden, welcher ihn diesem oder jenem Stande zutreibt. Wohl hören wir am Schlusse der Erzählung, dafs Copperfield Romanschriftsteller geworden sei; die Frage, wie er es geworden, oder inwiefern er für diesen Beruf befähigt gewesen, läfst Dickens hierbei ganz unberührt. D'Israeli dürfte in Contarini Fleming wenigstens versucht haben, den Leser mit dem Entwickelungsgange einer poetischen Natur bekannt zu machen. Das ganze Werk bildet überhaupt eine schlecht aneinander gereihte Perlenschnur von Situationen; und der Dichter füllt oft mit Plötzlichkeit durch eine Situation eine vermeintliche Lücke aus. Da er in der Mitte des Buches merkt, sein Held müsse wohl noch einige Jugendstreiche begehen, läfst er ihn mit einem Fleischerburschen in Kampf geraten und zuerst den Fleischerlehrling und dann seinen Schützling siegen. Mit derselben Plötzlichkeit löst er die zweite Frage, welche die Qualifikation seines Helden für den Schriftstellerberuf betrifft. Anstatt diesen Ausgangspunkt durch feine, den ganzen Roman durchziehende Fäden langsam vorzubereiten, läfst er gegen Ende des Werkes seinen Schützling in folgende denkwürdige Worte ausbrechen: „I had seen much, I had been in many countries, and I hope I had improved my store of knowledge." Und Copperfield sollte Dickens' Meisterwerk sein?

7. Was aber den Eindruck des Lesers von dem Helden der Erzählung am meisten schwächt, hat seinen Grund in der fehlerhaften Anlage des ganzen Buches. Während in anderen chronikähnlichen Romanen der Held zuweilen verschwindet und seinen Platz wenigstens auf kurze Zeit an andere Personen abtritt, meint hier irrtümlicherweise der Verfasser, eeine Haupt

Archiv f. n. Sprachen. LXXIV.

27

figur müsse nicht nur in den wichtigsten Situationen des Romanes aktiv eingreifen, sondern selbst in den Episoden wenigstens eine passive Rolle spielen. Durch ein zeitweiliges Verschwinden des Helden wird eine wohlthuende Abwechselung geschaffen: in unserem Romane gelangt der Leser jedoch allmählich zu der Überzeugung, dafs ein überall sich zeigender Held ein Faulpelz sein müsse. Copperfield mufs schon als Kind den Heiratsvermittler zwischen dem Fuhrmann Barkis und dem Dienstmädchen Peggotty spielen; bei Heeps Entlarvung mufs unser Held natürlich zugegen sein; der Dichter läfst ihn stets zur rechten Zeit, ja selbst um Mitternacht in das Haus eines Privatgelehrten eintreten, den er in jedmöglicher Situation überrascht; er sieht hier zweimal Frau Strong zu den Fülsen ihres Gemahles, und was das Merkwürdigste an der Sache ist, das zweite Mal verharrt die Gattin in dieser demütigen Stellung und bittet trotz einer zahlreichen Zuhörerschaft um ihres Gatten Vertrauen. Copperfield kommt gerade zur Verlobung Hams in Yarmouth an; erscheint bei Emiliens Entführung ein zweites Mal in dieser Stadt, und als er das nächste Mal den Boden der Hafenstadt betritt, ist mit ihm, nur von der entgegengesetzten Seite die Leiche des ertrunkenen Steerforth angekommen. Da nun eine naive, weibisch-schmiegsame Natur unmöglich in all den Hauptsituationen und Episoden

die zwei letztgenannten Katastrophen sind episodenhaft eine aktive Rolle spielen kann, sondern dazu eine so kluge, geistreiche, phänomenhafte, heuchlerische und tapfere Person gehört wie Chicot in Alexander Dumas' „Fünfundvierzig Musketiere", so findet der Leser mit der Zeit heraus, der Dichter wünsche seinen in der ersten Person sprechenden Helden als Dummkopf zu schildern, da er nicht müde wird, ihm in jenen Episoden durch folgende Zusätze eine Rolle zuzuweisen: „,sagte ich",,,stammelte ich", „,indem er mich wütend ansah, während er mit Traddle sprach" u. 9. W.- Nachdem aber die fehlerhafte Anlage des Werkes den naiven Burschen zum Prahlhans, zum Faulpelz, ja zum Dummkopf gemacht hat, drängt sich uns noch zuweilen der Gedanke auf, dafs das naive Kind vielleicht gar nicht existiere, sondern nur die Verkörperung des moralisierenden Engländers sei, der wie die einen chaotischen

« PreviousContinue »