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ständnis und mit möglichster Unparteilichkeit gelöst hat. Wie unbedeutend erscheint dagegen die Darstellung des Cassius Dio, verworren, lückenhaft, ohne Geschmack und Kritik, wie oberflächlich die Biographie von Sueton. Auf die in der neuesten Zeit gemachten Versuche, den Tacitus als einen parteisüchtigen Aristokraten und den Tiberius als einen Beglücker des Volkes hinzustellen, hat Peter im dritten Bande seiner Geschichte Roms (S. 142-144) geantwortet. Jedoch mufs man zugeben, dafs Tacitus an manchen Stellen zu schwarz gesehen und dem Kaiser zuweilen ohne genügende Beweise schlechte Motive seiner Handlungen zugeschrieben hat. Auch die wohlthätigen Folgen der Regierung des Tiberius, welcher durch eine geordnete Verwaltung der grofsen Masse des Volkes Frieden und Sicherheit gewährte, hat Tacitus nicht so beleuchtet und hervorgehoben, wie man es von der Gerechtigkeit und dem unbefangenen Urteile eines Historikers verlangt nnd erwartet.

Vergleichen wir nun den Stil der Annalen mit dem der früheren Schriften, so tritt ein merklicher Unterschied hervor. Während sich im „Dialogus" noch manches so liest wie ein Produkt aus klassischer Zeit, mit Eleganz und Fülle ausgestattet, herrscht bereits in dem Agricola und in der Germania jene knappe, gedrungene, alle Regeln der rhetorischen Konzinnität verschmähende Form, welche die darauf folgenden gröfseren Werke charakterisiert. In der schrecklichen Zeit unter Domitian, umgeben von Greueln jeder Art, geängstigt und erbittert durch unaufhörliche Blutthaten, hat Tacitus das Interesse für die klassische Harmonie der Darstellung verloren und durch Kürze der Fassung, durch Neuheit oder Kühnheit des Ausdrucks, durch poetische Formen, also durch energische Objektivierung sucht er dem Inhalte seiner Schriften gerecht zu werden. Dieser innere Prozefs, der nicht zur Ruhe gelangt, sondern sich steigert, lässt sich bis an den Schlufs der Annalen verfolgen, sodafs die Schrift nicht blofs im Vergleiche mit den kleineren Werken und den Historien eine weitere Entwickelung in jener Richtung aufweist, sondern in manchen einzelnen Punkten eine Steigerung innerhalb der Annalen selbst zu bemerken ist.

Kein Schriftsteller des Altertums bedarf einer so genauen Analyse seines Sprachgebrauchs wie Tacitus. Es ist daher im Folgenden der Versuch gemacht, im Anschlufs an eine ausführlichere Arbeit des Herausgebers (,,Syntax und Stil des Tacitus") einen Abrifs davon zu geben, teils um das oben Gesagte im Einzelnen und im Zusammenhange nachzuweisen, teils um bei der Interpretation Raum für die Anmerkungen zu gewinnen.

Übersicht

des Taciteischen Sprachgebrauches.

I. Die Redeteile.

A. Das Substantiv.

§ 1. Plural der Abstracta.

a) Affekte: metus, pavores, pallores, odia, irae, iracundiae, tristitiae, luctus, gaudia, libidines (in der Bedeutung „Ausgelassenheit" ann. 11, 16), spiritus. Hiervon hat Cicero bereits: metus, odia, iracundiae; Livius: irae, gaudia, odia, luctus. Tacitus ist also weiter gegangen.

b) Geistige Eigenschaften und Zustände: audaciae, pravitates, simulationes, obsequia, lasciviae, infamiae, fastidia, sensus (,,Gesinnung"). Hierin geht Cicero viel weiter.

c) Substantiva dsr Bewegung: fugae, transfugia, effugia, diffugia (letzteres aл. εlo.), adventus, comitatus et egressus. Von diesen hat Cicero nur: fugae und adventus.

d) Nicht zu klassificieren sind: voluntates, utilitates, dignationes (an. io. nach Analogie von „,dignitates", welches auch bei Klassikern vorkommt), captivitates urbium, fortunae captae urbis (= casus), mortes, somni, valetudines, nocturni visus, educationes, iura successionum, consortia rerum, suspiciones, superstitiones, gloriae, silentia, miseriae temporum, necessitates, aemulatus (ἅπ. εἰρ.).

e) Bezeichnung der Ämter: dictaturae, praeturae, consulatus, tribunatus, auguratus, pontificatus.

Bei den Komikern ist der Plural der Abstracta noch selten, bei Cicero am häufigsten. Die späteren Prosaiker, namentlich Tacitus und Gellius, dehnen diesen Gebrauch zwar auf andere Wörter aus, sind aber in der Anwendung sparsam.

§. 2. Abstractum pro concreto: caerimoniae,,Gegenstände des Kultus", matrimonia statt coniuges, nobilitates,,Notabilitäten“, vitae usus „Lebensbedürfnisse“, decora statt decori homines, amicitia „Freunde", iura „Dokumente", origo „Ahnen“. So auch: dominationes, remigium, necessitudines, affinitates, clientelae, servitia, exsilia „Verbannte"; liberalitas „Geschenk" h. 1, 20 (auch Sueton u. Spp.)

§. 3. Der Abwechselung wegen steht zuweilen der Plural und Singular der Concreta promiscue: consules patres eques, eques pedites, pedites eques, pedes equites, post peditum ordines eques, septimani tertianus, senatores eques miles; Medisque et Persis et Bactriano ac Scytha, Samnis Paelignusque et Marsi. Ähnliches findet sich schon bei Livius.

§ 4. Konkrete Verbalsubstantiva auf tor, trix, sor, die von den Früheren mit Vorsicht gebraucht waren, bildete Tacitus, einem sprachlichem Bedürfnisse abhelfend, in freierer Weise, wie das überhaupt die Späteren gethan haben. Von solchen Wörtern auf tor und sor, die schon bei Klassikern vorkommen, hat er über vierzig; dichterisch oder nachklassisch sind aber folgende: cupitor, patrator, instinctor, instigator, criminator, raptor, famae venditator, auxiliator, condemnator, defector, conditor (auf ein Weib bezogen Germ. 28), violator, provisor „voraussehend", delator, proeliator, firmator, monstrator, regnator, interfectrix; endlich die schon bei Livius vorkommenden: assertor, concitor, interceptor, ostentator, populator, munitor, ruptor, turbator.

Nur oder zuerst bei Tacitus kommen vor: accumulator, concertator, detractor, exstimulator, profligator, sanctor legum, legum subversor, instigatrix, regnatrix.

B. Das Adjektiv.

§. 5. Adjectiva (und Participia) werden häufig substantiviert:

a) masc. equester, militaris, nulli, missi, praecipientes, praesidentes, dicentes, orantes, peccantes, servientes, laudantes, medentes, vincentes.

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b) neutr. sing. nullo nulla re (ist nachklassisch), egregium, bonum publicum, egenum, in unum, dignum, triste, providum, breve et incertum, vetus, honestum, in barbarum, per immensum, in lubrico. Andere mit abhängigem Genetiv s. §. 40, a.

c) neutr. plur. sehr häufig, namentlich mit dem Genetiv, s. §. 40, b.

§. 6. Pradikative Adjectiva statt eines Adverbs sind öfter angewandt als bei den Früheren: frequens, rarus, obscurus, multus in agmine, subitus irrupit, repentinus, avidus intercepit, diversi interpretabantur, pergit properus, intrepidi transiere, occulti laetabantur, aequus, rapidus, irritus, novissimus, improvisus, praecipuus.

§. 7. Steigerung der Adjectiva (und Participia). Seltene Formen sind: sordidius et abiectius, irrevocabilior, intolerantior, conspectior, coniunctior, iunctissimus, metuentior, ex

cusatius, sollicitior, insignitior, improvisior, invisior, curatius, curatissimus, absolutissimus, impeditissimarum, strenuissimus, piissimus, vulgarissimus (an. elo.).

In solchen Neubildungen ist Tacitus weit zurückhaltender als Cicero. Auch Livius scheut sich nicht vor Formen wie: cuneatior, assuetior, impunitior, inexsuperabilior u. a. Sehr korrekt sind hierin Cäsar und Sallust.

C. Pronomina.

§. 8. Aufser dem adjektivischen Gebrauche von quidquam (dial. 29) kommt nichts vor, was nicht schon in der klassischen Periode nachzuweisen wäre, z. B. quis statt uter, quis ille und hic ille mit Brachylogie, aliquis im negativen und im konditionalen Satze, die Verwechselung des Demonstrativs und Reflexivs, endlich das seltene „nemo unus“.

D. Adverbia.

§. 9. Ceterum statt sed, welches bei Cicero und Cäsar noch fehlt, selten bei Sallust und bei Livius häufig ist, findet sich in den Historien und Annalen. In der Bedeutung von „re vera autem" hat es aufser Tacitus und Sall. J. 76, 1 nur noch der jüngere Plinius und Sueton gebraucht.

§. 10. Neutrale Adjectiva als Adverbia: aeternum, immensum, postremum, supremum, praeceps, recens. Der Gebrauch solcher Formen wird von nachklassischen Prosaikern weiter ausgedehnt.

§. 11. Adverbium statt eines attributiven Adjektivs: multa invicem damna, universae ultra gentes, nullis contra terris, dites circum terrae, occupare velut arcem eius (d. h. „sein einer Burg gleichendes Haus", ähnlich wie quasi bei Cicero), insigni familia ac perinde opibus, gravibus superne ictibus, impar comminus pugna, Liburnicarum ibi navium, memoria prosperarum illic rerum. Schon Livius hat diesen Ge

brauch der Adverbia sehr häufig.

§. 12. Einzelnes: adhuc von der Vergangenheit; utcunque ,,allenfalls, gleich viel wie". Beides auch bei Livius. - Adeo nedum. Statt fere, welches nur im Dialogus cp. 16 vorkommt, steht sonst überall ferme.

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E. Das Verbum.

§. 13. Der Einfluss der Dichter zeigt sich deutlich in der häufigen Anwendung eines einfachen Verbums statt eines zusammengesetzten. So sagt Tacitus: apisci, asperare, ardescere, celerare, cire; cernere decernere, clarescere, cludere, firmare statt affirmare und confirmare, flammare, flere c. accus., gra

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vescere, haurire exhaurire, iutus, noscere für agnoscere, notescere, novare = renovare, piare, ponere statt proponere, propinquare, putare für computare, quatere, radere eradere, rapere statt abripere und eripere, sistere consistere, solari, spargere dispergere, struere für exstruere und instruere, suescere, temnere, tenuare, valescere, vanescere, venire provenire, vehere = provehere, vectus für travectus, vertere statt

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evertere, vincire devincire, vocare — provocare und invocare.

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Viele dieser Verba fehlen noch in den drei kleineren Schriften des Verfassers und manche erscheinen erst in den Annalen.

§. 14. Genus verbi.

a) Ein persönliches Passiv bilden die Intransitiva dubitare, triumphare, ministrare, regnare.

b) coepi in aktiver Form mit einem passiven Infinitiv, wie audiri, dimoveri, eligi, occidi. Solche Infinitive haben bei Klassikern stets, bei Tac. niemals das Passiv von coepi bei sich. §. 15. Tempora.

a) Perfekt scheinbar statt des Plusquamperfekts; ann. 1, 53 scripsit. 2, 62 transtulit und öfter. So schon Cäsar b. civ. 3, 66, 2 und §. 3. Dann betrachtet der Schriftsteller die Handlung vom Standpunkte der Gegenwart aus.

b) Plusquamperf. pro perfecto: h. 2, 5 aboleverat. ann. 1, 63 auxerant, und so öfter, wie bereits bei Sallust und Livius. Es wird alsdann der Erfolg einer vergangenen Handlung hervorgehoben.

c) Der Konjunktiv des Präsens und Perfekts in der indirekten Rede der Vergangenheit ist in den Historien und Annalen nicht selten, wie auch bei Cäsar und Livius; nicht so häufig bei Sallust. Der Grund scheint in dem Streben nach Abwechselung in der Form der Verbalendungen zu liegen.

§. 16. Modi. Eine Neuerung ist die auch bei den Späteren selten gebliebene Übertragung des aoristischen Potentialis perfecti auf Nebensätze, während die Klassiker diesen Gebrauch des Modus nur im Hauptsatze zulassen. Dial. 34 ut sic dixerim. Agr. 3 ut ita dixerim. ann. 6, 22 ne nunc incepto longius abierim. Vgl. Liv. 8, 18, 3 ne cui fidem abrogaverim. Übrigens ist Tacitus in der Anwendung der Modi des Hauptsatzes durchaus korrekt.

II. Der einfache Satz.

A. Kongruenz.

§. 17. Kongruenz des Numerus. Das Kollektiv hat oft ein Prädikat im Plural: ann. 1, 44 seditiosissimum quemque

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