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keit eines erneuten energischen staatlichen Eingriffes im Falle schlechter Führung zur Voraussetzung haben, wo dem Richter von vornherein die Hände gebunden sind: War im richterlichen Erkenntnis das gesetzliche Höchstmaß der Einschließung (2 Monate) ausgesprochen und war das Urteil vollzogen, so steht jetzt dem Richter nur auf Grund eines nicht tadelsfreien Verhaltens ohne das Vorliegen einer neuen strafbaren Handlung keine weitere Strafkompetenz zu; und im günstigeren Falle könnte er eventuell nur noch über einen allfälligen freien Rest (die verbüßte Freiheitsentziehung vom Höchstmaß abgezogen) verfügen. Diesen zweiten Teil der Exekution aber zu einer Zeit staatlicher Schutzaufsicht ohne weitere Bewährungsbedingungen zu machen, dürfte sich in den vorliegenden Fällen am wenigsten rechtfertigen, da wir es hier meist mit Jugendlichen zu tun haben, die in gesunden und ordentlichen Familien- und Lebensverhältnissen stehen.

§ 11.

Die Probation.1

(Bedingter Erlass der Einschliessung.)

I. Allgemeines. Wir nähern uns damit einem Institute, das trotz seines verhältnismäßig jungen Daseins eine weite Geschichte hinter sich hat und in der Zeit eines halben Jahrhunderts, von Amerika und England herkommend, in den meisten Strafgesetzbüchern der europäischen Staaten Eingang fand, indem es hier so und dort

1 Literatur:

Perrin: De la remise conditionelle des peines, Thèse, Genève 1901.
Bachem: Die bedingte Verurteilung, 1894.

Zürcher: Über die bedingte Verurteilung, Verhandlung des schweiz. Vereins für Straf- und Gefängniswesen, Aarau, 1901.

Ignatius: Die bedingie Verurteilung in England, Zeitschr. für die ges. Strafrechtswissensch. XXI, 732.

Gruber: Die neuesten Ergebnisse der beding. Verurteilg. in Frankreich und England: Gerichtssaal 49, S. 133. in Belgien: Gerichtssaal 55, S. 466. Materialsammlung üher bedingte Verurteilg., erschien bei C. Heymann, Berlin, 1896.

Hartmann: Strafrechtspflege in Amerika, Berlin, 1906, Probation System S. 250 ff.

Appelius: Die bedingte Verurteilung und die anderen Ersatzmittel für kurzzeitige Freiheitsstrafen, Cassel, 1890.

Mittermaier, Der bedingte Straferlaß, schweiz. Zeitschrift für Strafrecht, XVI, 1903, S. 31 ff.

Groß: Für den bedingten Straferlaß: Zeitschr. für priv. und öff. Recht der Gegenwart, 1907, XXXIV, P. 273–424.

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anders ausgebaut und spezialisiert wurde. Dabei ist es namentlich charakteristisch, wie mancherorts die „Probation" auf dem Umweg über die Jugendlichen sich die normale Strafgesetzgebung erobert hat, wie sie also zuerst in einem engeren Kreise ihre Brauchbarkeit zu legitimieren und ein gewisses Mißtrauen zu überwinden hatte. Dieses Mißtrauen war historisch von seiten der europäischen Staaten vollauf berechtigt, da dieses neue Institut der bedingten Verurteilung oder des bedingten Straferlasses als die leibhaftige Verkörperung des Zweckgedankens erscheinen mußte, indem es verlangte, daß unter gewissen ganz im Willensbereich des Täters liegenden Voraussetzungen der Richter trotz des Vorliegens eines erwiesenen strafbaren Delikts von der Anwendung der eigentlichen Strafe ganz absehen könne. Diese Voraussetzung war in der Hauptsache, daß der Verbrecher innerhalb einer bestimmten Frist der Gesellschaft den sichern Beweis seiner weiteren Ungefährlichkeit und wirtschaftlichen Tüchtigkeit leisten mußte, während welcher Zeit er auf freiem Fuße und höchstens unter der Aufsicht staatlicher Schutzorgane sein sollte. Erbringt er diesen Beweis, so fällt die Strafe, resp. Verurteilung dahin; andernfalls tritt das normale Verfahren ein.

II. Geschichtliches. Das Institut ist, wie schon bemerkt, eine Schöpfung des anglo-amerikanischen Rechts. Seine Entstehung verdankt es, was uns angesichts der Strafrechtsentwicklung in Amerika nun nicht mehr wundern kann, einem Privatmann, R. Cook, der aus Teilnahme und Interesse für die Angeschuldigten regelmäßig die Gerichtssitzungen in Boston besuchte und in mehreren Fällen die Richter dahin zu bewegen wußte, das Verfahren auszusetzen, um dem Schuldigen Gelegenheit zu geben, sich zu bessern, ohne eingesperrt zu werden. Dieser Weg wurde in Massachusetts zuerst nur gegenüber jugendlichen Personen, die das siebenzehnte Altersjahr noch nicht vollendet hatten, eingeschlagen. 1869 wurde in diesem Staate ein Stat-Agency (eine besondere staatliche Schutz- und Aufsichtsbehörde) errichtet, unter dessen kräftiger Mithilfe, die hauptsächlich in der Überwachung des einzelnen Individuums praktisch wurde, das Institut erst gedeihen konnte. Auf Antrag des zuständigen Beamten (probation officer) ging jetzt der Urteilsspruch, wenn der Fall sich dazu eignete, auf eine bestimmte Probezeit (probation), ohne daß für den Fall eines nicht zufriedenstellenden

1 Vgl. Binding, Normen, I. Bd., 2. Auflage, S. 417. Die bedingte Verurteilung wird hier als eine ungesunde Neuerung“ angefochten.

Verlaufes derselben jetzt schon eine bestimmte Strafe in Aussicht gestellt wurde; erfüllte der Täter während dieser Bewährungsfrist die in ihn gesetzten Erwartungen nicht, so erfolgte erst nach einer erneuten Manifestation des verbrecherischen oder unbiegsamen Charakters, der sich keineswegs stets in einem zweiten Verbrechen zu äußern brauchte, der auf Strafe lautende Urteilsspruch. (Bedingte Verurteilung.)

Dieses Verfahren wurde im Jahre 1878 in Boston auch für Erwachsene eingeführt und 1880 durch Gesetz für den ganzen Staat Massachusetts.' Hier wurden denn auch im Laufe der Zeit, nachdem sich das Erprobungswesen mit seinen Organen (probation officers) entfaltet, durchschnittlich ein Drittel aller Jugendlichen, welche einer strafbaren Handlung überwiesen waren, „on probation" gestellt, und es erhärtete sich in jahrelanger Praxis der Satz: „probation is better than cure." Von Massachusetts fand das Institut bald und ohne wesentliche Änderungen in den übrigen fortgeschrittenen amerikanischen Staaten Aufnahme.

England bildete sich, unabhängig von der amerikanischen Entwicklung, sein Probationssystem; die Initiative ergriff hier (1842) der Richter Matthew Davenport, indem er die bedingte Verurteilung wiederum zuerst nur für die jugendlichen Übeltäter in Anwendung brachte. Der Summary Jurisdiction act von 1879 verallgemeinerte die Idee, indem den Gerichten gestattet wurde, bei Vergehen von geringer Schwere auch den Erwachsenen gegen das Versprechen guter Führung zu entlassen, bis 1887 die „bedingte Verurteilung" auf alle strafbaren Handlungen erweitert wurde, die im Maximum mit zweijähriger Gefängnisstrafe bedacht sind. ("Probation of First Offenders Act 1887," Chap. 25, 50-51 Vict.)

Auf dem Kontinente war es zuerst Belgien, welches in einem Gesetz vom 31. Mai 1888 dem neuen anglo-amerikanischen Gedanken Eingang verschaffte. Immerhin findet hiernach die „Probation" nur

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1 Baernreither, S. 126 ff.

Gruber: Bedingte Verurteilung in Amerika, Gerichtssaal, 55, S. 285.

A schrott: Die bedingte Verurteilg. in Massachusetts. Mitteilungen der internaton, krim. Vereinigung 5, S. 539.

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Dergleichen auch Ges. von Neuseeland: an act to permit the conditional release of first offenders for Probation of Good Conduct“, 1886; ebenso Canada, Ges. vom 20. März 1889.

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3 Loi établissant la libération conditionelle et les condamnations conditionelles dans le système pénal."

Anwendung bei Verbrechen und Vergehen, welche nicht mit mehr als sechsmonatlicher Freiheitsstrafe geahndet wurden; es wird also abgestellt auf die Beurteilung und das Urteil des Einzelfalles. Und hierin liegt der wesentliche Unterschied gegenüber dem englischamerikanischen Recht. Die Verurteilung erfolgt tatsächlich vor Beginn der Bewährungsfrist, und die Gewährung der Probation stellt sich somit als Aufschub der Urteilsexekution dar, die dann im Falle der Bewährung als erstanden angesehen wird. Man kann hier also nicht mehr von einer „bedingten Verurteilung" im Sinne des englischen und amerikanischen Rechtes sprechen, sondern richtigerweise muß man von einem ,bedingten Straferlaß" reden.1

Frankreich folgte Belgien in der Aufnahme des „sursis à l'exécution" durch das Spezialgesetz vom 26. März 1891: Loi sur l'atténuation et l'aggravation des peines. Bemerkenswert ist, daß schon im Jahre 1884 Bérenger einen ähnlichen Gedanken zu verwirklichen suchte; doch drang damals sein Antrag, „la loi Bérenger," nicht durch. Sehr rasch übernehmen nun Luxemburg, Portugal und Norwegen das belgisch-französische System."

Eine sehr mühsame Entwicklung, die bis heute noch nicht abgeschlossen ist, hatte der Probationsgedanke in Deutschland durchzumachen. Nach dem Vorgang von Sachsen, Hessen und Preußen (Ges. vom 23. Oktober 1895) wurde die Idee des bedingten Straferlasses unter dem Pseudonym der „bedingten Begnadigung" auch in den übrigen deutschen Einzelstaaten eingeführt. Diese unklare Denkweise und Vermengung zweier verschiedener Institute versteht sich nur daraus, daß man zuerst versuchsweise den „bedingten Straferlaß" in den Einzelstaaten einführen wollte, wo man dann, um nicht mit dem Reichsstrafrecht in Kollision zu geraten, an das landesherrliche Begnadigungsrecht anzuknüpfen genötigt war. In eine ähnliche zwei

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1 Über die Anwendung in Belgien: Revue pénitentiaire, XXV, p. 390. Der Ausdruck bedingter Strafaufschub", der hier und dort noch in Gebrauch steht, ist schief, denn nicht der Aufschub, die Schwebezeit der Strafe selbst ist bedingt, sondern ihr Erlaß, der „Strafausschluß“.

2 Zu vgl.: Nègre et Gary: La loi Bérenger et ses applications, 1891. 3 Luxemburg: Ges. vom 10. Mai 1892. Portugal: Ges. vom 6. Juni 1893. Norwegen: Ges. vom 2. Mai 1894, vgl. hiezu:

Andreas Urbye: Die bedingte Verurteilung im norwegischen Recht, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft XV, 248. Obiges norwegisches Spezialgesetz findet sich jetzt, nur wenig verändert, in §§ 52-54 des neuen Strafgesetzbuches vom 22. Mai 1902.

Zu vegl. „Reichsanzeiger" vom 4. Mai 1901. v. Liszt: Kriminalpolitische Aufgaben. Zeitschr. XII., S. 180.

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deutige Stellung begab man sich in Oesterreich. Durch Erlaß des Justizministeriums vom 25. Nov. 1902 wird in gewissem Umfange die Einführung der unbedingten Begnadigung von Jugendlichen" in Aussicht gestellt. Indessen hat in Deutschland z. T. die private Tätigkeit den langsamen Fluß der Entwicklung überholt. Neuerdings haben einige deutsche Gefängnisvereine im Einvernehmen mit den Behörden an die Stelle der staatlichen Polizeiaufsicht die Schutzaufsicht nach amerikanischem Probationssystem gesetzt.' Für einen sehr beschränkten Wirkungskreis, aber folgerichtig wurde der Gedanke des bedingten Straferlasses in den Eisenacher Vorschlägen und den Beschlüssen der Berliner Konferenz erfaßt. „Es ist zu empfehlen, für erste Freiheitsstrafen bis zu drei Monaten eine Aussetzung des Strafvollzugs einzuführen." (Beschlüsse der Berliner Konferenz: Nr. 6, Abs. 2.) Indem auch hier im konkreten Falle das Urteil vor Beginn der Probationszeit zu erfolgen hat, stellt sich obiger Beschluß in die Reihen des belgisch-französischen Systems, das mittlerweile im Gegensatz zum anglo-amerikanischen das kontinental-europäische geworden ist.

In ganz natürlicher Weise reihen sich die schweizerischen Kantone, welche das Probationssystem in ihren Gesetzgebungen aufgenommen haben, an die Entwicklung auf europäischem Boden an. Es sind dies Genf, Waadt, Wallis, Tessin, Freiburg, Neuenburg und St. Gallen; Zürich sieht die Einführung des „bedingten Straferlasses," namentlich mit Bezug auf die Jugendlichen, im § 416 eines Entwurfs

Dr. Hartmann: Amerikan. Strafr. in den Blättern für vergl. Rechtswiss. und Volkswirtsch., Berlin, 1906, S. 228.

Im November ersuchte der Reichstag den Reichskanzler, „eine reichsges. Einführung der bedingten Verurteilung in Erwägung zu ziehen.“

Genf: Loi sur la peine conditionelle, 29 oct. 1892. Vgl. hiezu: Picot: la peine conditionelle, resultats de son application dans le canton de Genève (Zeitschr. für Strafrecht, Bd. IX, S. 10).

Waadt: Loi sur le sursis à l'exécution des peines, 13 mai 1897.
Wallis: Loi concernant le sursis à l'exécution des peines, 13 mai 1899.
Tessin Decreto legislativo concernente la sospensione condizionale della pena,

14. Nov. 1900.

Freiburg: Ges. vom. 9. Mai 1903 (Zeitschrift XVII, 469).

Neuenburg: In Ausarbeitung und Erweiterung des Art. 400 ff. Code pénal (1891) Ges. vom 28. März 1904. (Zeitschr. XVII, 115.)

St. Gallen: Ges. vom 24. XI. 1905.

In Basel St., Solothurn und wie erwähnt

liche Gesetze bereits in Vorbereitung.

auch in Zürich liegen ähn

Der Große Rat von Bern hat am 27. April 1907 ein Gesetz über den bedingten Straferlaß (erster Entwurf von Mittermaier) angenommen.

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