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folges entgegenwirkt (Rücktritt vom Versuch und tätige Reue: Art. 21 § 2), gerade mit Rücksicht auf seine freie Entschließung, wodurch sich gewiß eine bereits vorhandene Charakterstärke, aber auch gemeine Furcht und Feigheit manifestieren kann, ob nicht für diesen Fall, der den erwachsenen Täter von der angedrohten Strafe befreit oder diese doch mildert (tätige Reue), auch hinsichtlich Jugendlicher richterliche Maßnahmen unterbleiben sollen. (Art. 21, § 2.) Ich möchte dies verneinen. Denn wenn wir einmal davon ausgehen, aus dem Jugendstrafrecht einen Teil der Fürsorge- und Erziehungspolitik zu machen, so gilt es, diesen Gedanken nach Möglichkeit durchzuführen, und da, wo immer Verwahrlosung und Verkommenheit sich denunzieren können, einzugreifen. Warum sich nun seines Rechtes auf Erziehung begeben, wenn sich der verbrecherische Charakter eines Jugendlichen durch Vorbereitung, Anlage und teilweise Ausführung einer gefährlichen Handlung genügend erwiesen hat, nur weil er schließlich, vielleicht aus Furcht oder unter dem drohenden Eindruck des vorgestellten nahen Erfolges, es unterließ, die letzte Bedingung zu setzen? Ist in vereinzelten Fällen der jugendliche Täter aus beachtenswerten Motiven von der weiteren Ausführung abgestanden und ist er weder verwahrlost noch sittlich verdorben, so bleibt dem erkennenden Richter immer noch der Ausweg, aus der Reihe der möglichen Maßregeln die geringste auszuwählen und den Jugendlichen mit einem angebrachten Verweis zu entlassen (Art. 14 § 3). Diese Gründe scheinen mir überzeugend dafür zu sprechen, daß Art. 21 in seiner jetzigen, die Jugendlichen nicht berührenden Fassung zu belassen sei.

III. Die Antragsdelikte im speziellen. Es ist hier davon auszugehen, daß der schweizerische Entwurf den Antrag nicht als Prozeßvoraussetzung, sondern als Bedingung der Strafbarkeit auffaßt.1 Da es sich nun, wie schon mehrfach erwähnt, bei Maßregeln gegenüber Jugendlichen nicht um eine Bestrafung handelt, so wäre aus obigem zu schließen, daß ihre Verfolgung auch bei Antragsdelikten ex officio zu erfolgen habe.

Aus praktischen Erwägungen würde Appelius diesem Ergebnis zustimmen: „das öffentliche Interesse erfordert aber auch, daß die Antragsdelikte von Kindern festgestellt werden, auch wenn der Straf

1 So auch: Birkmeyer: Encyclopädie der Rechtswissenschaften, S. 1077. — Vgl. Art. 2 des Entw.: „Ist eine Tat auf Antrag strafbar, so wird der Täter nur bestraft -", ferner den Wortlaut der einzelnen Antragsdelikte.

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antrag nicht gestellt wird oder sogar abgelehnt wird, und daß nach Beschaffenheit des Falles die Entscheidung ohne Rücksicht auf den Antrag ergeht. Die staatlich überwachte Erziehung soll vorbeugend wirken, daß nicht aus der Vernachlässigung des Kindes in der Zukunft ein Übeltäter erwachse."1

Nun ist aber darauf hinzuweisen, daß der vorliegende Entwurf nicht mehr so viele Antragsdelikte kennt, als das Reichsstrafgesetzbuch, von dem Appelius ausging; anderseits handelt es sich hier zum großen Teil um Vergehungen, die sich im engern Kreise der Familie und der Hausgenossen abspielen (vergl. Entwurf Art. 80, 85, 90, Diebstahl, Unterschlagung, Veruntreuung und Betrug gegenüber Angehörigen und Familiengenossen). Wollte der Gesetzgeber in diesen Fällen Kinder und Jugendliche auch ohne Antrag verfolgen lassen, so würde er das negieren, was er am meisten mit der Voraussetzung eines Antrages bezweckt: Weckung, Anerkennung und Schonung des Familiengefühls. Und konsequenterweise fände dann auch Art. 205, 2. Alinea (Straflosigkeit bei Verletzung der Anzeigepflicht) auf das Verhältnis von Eltern und Kindern, von Brüdern und Schwestern usw. keine Anwendung. Denn wenn einmal jedes familiäre Gefühl der Zusammengehörigkeit und jede elterliche Pietät dem „allgemeinen Wohl“ geopfert werden soll, so sind die Eltern, welche im Sinne des Art. 205 ihr schuldiges Kind nicht anzeigen, strafbar zu erklären, eine Konsequenz, die selbst Appelius von seinem Standpunkte des öffentlichen Interesses aus nicht billigen könnte.

Was aber die Antragsdelikte anlangt, welche nicht unter obigen Gesichtspunkt fallen, so sind sie einerseits von sehr untergeordneter

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Appelius, S. 79.

2 z. B. sind nach dem Entwurf keine Antragsdelikte, wohl aber nach dem deutschen Strafgesetzbuch: R. Str. G. B. § 170 (Eheerschleichung), 179 (Erschleichung des Beischlafes), 182 (Verführung eines jungen Mädchens), Leidenschaftsdelikte also, die für ältere Jugendliche sehr wohl in Betracht kommen können.

Dies sind: Art. 73 § 1 (einf. Körperverletzung), 78 § 1 (fahrläß. Körperverletzung, 88 (Verletzung des Pfand-, Nutznießungs-, Gebrauchs- und Retentionsrechts), 101 (Verleumdung), 102 (üble Nachrede), 103 (Beschimpfung), 104 (Kreditschädigung), 106 (Bedrohung), 107 (Hausfriedensbruch), 108 (Verletzung der Berufsgeheimnisse), 109 (Verletzung des Briefgeheimnisses), 112 (Entführung einer Frauensperson zu unzüchtigen Zwecken), 113 (Entführung einer Frauensperson zum Zweck der Ehe), 139 (Ehebruch), 160 (Verletzung des Fabrikations- und Geschäftsgeheimnisses), 211 u. 212 (Verbr. gegen befreund. Staaten), 234 (Tätlichkeiten), 236 (Entwendung), 237 (Eigenmacht des Gläubigers), 238 (geringe Unterschlagung und Veruntreuung), 241 (geringe Eigentumsschädigung), 243 (geringe Beleidigung), 244 (unbefugte Veröffentl. schriftl. Mitteil.).

Bedeutung und anderseits steht zu erwarten, daß der Verletzte oder Beleidigte nötigenfalls von seinem Antragsrecht um so mehr Gebrauch machen wird, als er nun weiß, daß den jugendlichen Übeltäter nicht eine harte Strafe, sondern eine zweckdienliche Behandlung erwartet. Ich glaube deshalb annehmen zu dürfen, daß hier ein Redaktionsversehen vorliegt, indem der Gesetzgeber bei den Antragsdelikten allerdings auch die Jugendlichen im Auge hatte, dabei aber übersah, daß er sie gerade durch den Wortlaut („, wird bestraft“) ausschloß. Wollte anders der Gesetzgeber die Antragsdelikte nur für strafmündige Verbrecher gelten lassen, so hätte er sich, um diesen naheliegenden Zweideutigkeiten vorzubeugen, gewiß deutlicher ausgesprochen. Der Meinung des Gesetzgebers gerecht zu werden und weitere Kontroversen zu vermeiden, wäre also der Text für die Antragsdelikte zu ergänzen: ——, wird nur auf Antrag bestraft, resp. im Sinne der Art. 13 und 14 behandelt."

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III. Abschnitt: Die Behandlung.

A. Rein erzieherische Massnahmen.

§ 9.

Die Zwangserziehung.

I. Allgemeines. Schon durch Art. 64 bis der Bundesverfassung, angenommen in der Volksabstimmung vom 13. November 1898, eröffnete sich ein neuer kriminalpolitischer Ausblick: „Der Bund ist befugt, den Kantonen zur Errichtung von Straf-, Arbeits- und Besserungsanstalten und für Verbesserungen im Strafvollzug Beiträge zu gewähren. Er ist auch befugt, sich an Einrichtungen zum Schutze verwahrloster Kinder zu beteiligen."

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1 S. Abänderungsvorschläge Nr. 5. Für die Praxis dürfte man jedoch. auch ohne textliche Veränderung, mit einem bloßen Analogieschluß auskommen, 2 Über die derzeitige Zulassung der praktischen Anwendung dieses Verfassungssatzes (vor dem Inkrafttreten des eidgenöss. Strafrechts!) vgl. Hafter, Verhandlungen des schweiz. Vereins für Straf-, Gefängniswesen und Schutzaufsicht, Aarau, Sauerländer, 1906.

Dieser allgemeine Verfassungssatz hat zunächst durch die Übergangsbestimmungen des Entwurfes Art. 40 ff. etwelchen Ausbau erfahren; im Prinzip aber ist er der Vorläufer und die wichtige Grundlage einer praktischen und gesicherten Durchführung des modernen Jugendstrafrechtes überhaupt. Denn es ist von vornherein klar, daß das Hauptgewicht in der gesamten Behandlung jugendlicher Verbrecher auf die Exekution, die Zwangserziehung, fällt, und daß alle Erziehung ohne die nötigen Mittel und Vorkehrungen nur eine halbe, wenn nicht gar wertlose ist. Die großen finanziellen Aufgaben, welche den Kantonen aus der obligatorischen Zwangserziehung Jugendlicher erwachsen. können durch den Bund nunmehr unterstützt und gefördert werden; wenn diese Subventionierung auch nur eine fakultative ist, so dürfte zu erwarten sein, daß das Interesse und die Beteiligung des Bundes in Hinsicht auf die allgemeine kriminalpolitische und volkswirtschaftliche Bedeutung der gesamten Jugendfürsorge und Verbrechensprophylaxe stets rege sei, soweit sich dies natürlich mit dem Finanzhaushalt des Bundes im übrigen vereinbaren läßt. Zu beachten ist auch, wie im Wortlaut der Verfassungsbestimmung der enge Zusammenhang zwischen verbrecherischer und verwahrloster Jugend richtig erkannt und deutlich ausgesprochen wird. Der Zusatz: „Er ist auch befugt, sich an Einrichtungen zum Schutze verwahrloster Kinder zu beteiligen gehört seiner Natur nach unter die Bestimmungen über Erziehungswesen (Bundesverfassung Art. 27 ff.) Seine jetzige Stellung und Einreihung unter die Sätze betreffend die Gesetzgebungskompetenz des Bundes rechtfertigt sich nur aus der genannten allgemein kriminalpolitischen Zugehörigkeit.

Indessen sind die Kantone schon vor Erlaß obigen Satzes ohne Unterstützung einzeln vorgegangen und es läßt sich vielleicht sagen, daß sich gerade dieser Satz als eine praktische Folge der mühsamen Versuche der Kantone, die sich zumeist mit privaten Mitteln behelfen mußten, darstelle.1

Es fällt natürlich außer den Rahmen dieser Arbeit, die innere Organisation und Verwaltung der Anstalten im Detail zu beleuchten. Immerhin greift die Gesetzgebung des Bundes durch einige Bestimmungen in dieses Gebiet, soweit sie mit Rücksicht auf möglichst

1 In der Schweiz bestehen zurzeit 33 Anstalten für verbrecherische Jugendliche; im Kanton Zürich: Ringweil (auf Grund des Gesetzes vom 4. Mai 1879 gegründet). Uitikon (1874 durch einige Gemeinden des Bez. Zürich errichtet). Vgl. J. G. Schaffroth: Strafvollzug in der Schweiz, Sonderabdruck aus den Blättern für Gefängniskunde, Mannheim 1900. Ferner: o. Gesch. Einleitung, § 2.

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große Individualisierung der Insassen (Art. 42/3)1 ihre Wünsche äußert und die Verbindung mehrerer Kantone zur Gründung einzelner Anstalten und ebenso die Zuziehung privater Institute befürwortet.

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Aus den daraus sich ergebenden Fragen seien einige von besonderer Wichtigkeit herausgehoben.

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II. Zur Terminologie ist zunächst zu sagen, daß von Zwangserziehung nur mit Hinsicht auf die staatlich zwingende Durchführung und Überwachung gesprochen wird. Im gleichen Sinne sprach sich die internationale kriminelle Vereinigung (Deutsches Reich) aus: Die Kommission versteht unter Zwangserziehung entweder eine von obrigkeitswegen geordnete und beaufsichtigte Erziehung in der eigenen oder fremden Familie oder aber als Unterbringung in einer staatlichen oder unter staatlicher Aufsicht stehenden, privaten Erziehungsanstalt." Da obiger Wortlaut durch die unglückliche Verbindung von „Zwang“ und „Erziehung" leicht zu Mißdeutungen führen und die Erziehungsanstalten in der Wertschätzung des Publikums schädigen könnte, wäre es vielleicht angezeigt, von „, staatlicher Pflegeerziehung" zu reden; diese Änderung liegt im Interesse der Sache und wird gewiß keinem ernsten Widerspruch begegnen, da sie nur eine formale, den Gegenstand nicht berührende ist.

Die Unterscheidung von Zwangserziehungs- und Besserungsanstalten kam schon anläßlich der Untersuchung über die verbrecherische jugendliche Persönlichkeit (siehe oben § 6) zur Sprache. Diese Zweiteilung des Entwurfes entspricht in der Hauptsache der vormals in England bestehenden Teilung in Industrial- und Reformatory Schools. In letztere wurden nur Jugendliche eingewiesen,

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'Art. 42/3: „Im Betriebe einer solchen Anstalt sind die Zöglinge nach Altersstufen möglichst zu sondern." Die Trennung der männlichen und weiblichen Insassen wird nicht verlangt, versteht sich aber wohl von selbst. Vgl. übrigens hinsichtlich der innern Organisation die sehr lebendigen und lehrreichen Schilderungen Baernreithers über das House of Refuge in Glenmills (Pennsylvanien), S. 80 ff. Ferner: Vorschläge bei Appelius §§ 44 u. 45; S. 157 ff.: „die nach dem 14. Altersjahr überwiesenen Zöglinge sollen tunlichst von denjenigen getrennt gehalten werden, welche vor diesem Zeitpunkt einer Erziehungsanstalt überwiesen sind."

...

2 Vgl. Art. 40: „Er (der Bund) wird vorzugsweise die gemeinsame Erstellung solcher Anstalten durch mehrere Kantone unterstützen." Verkommnisse verschiedener Kantone über gemeinsame Gründung und Betrieb einer oder mehrerer solcher Anstalten gründen sich auf das durch Art. 7, 2. Absatz der Bundesverfassung statuierte interkantonale Vertragsrecht. (Vgl. Schollenberger, Bundesstaatsrecht der Schweiz, Berlin 1902, S. 172 ff.).

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