Page images
PDF
EPUB

für eine staatliche Erziehung zugängliche Personenmaterial, denn für die dritte Gruppe jugendlicher Übeltäter kann von einer Besserung oder doch von einer Erziehung im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein.

"

3. Jugendliche, deren Zustand eine besondere Behandlung erfordert, wie: Geisteskranke, Schwachsinnige, Taubstumme, Epileptiker. (§ 2, Art. 14). Die hierher gehörenden Typen sind unter a) 2 der Motive genannt. Die obige Aufzählung des Entwurfes soll aber nicht eine erschöpfende sein, wie das „insbesondere" des Textes deutlich macht, sondern nach richtiger Auffassung sind dies nur einige vom Gesetzgeber enunziativ aus der Fülle des Lebens herausgegriffene Beispiele.' Dies liegt auch in dem verallgemeinernden Satze : „oder ist er in seiner geistigen oder sittlichen Entwicklung ungewöhnlich zurückgeblieben. Es handelt sich hier um diejenigen Individuen, deren Zustand vor allem eine dauernde ärztliche Pflege nötig macht, oder bei denen von Anfang an nach aller Erkenntnis auf irgendwelche Resultate einer erzieherischen Behandlung verzichtet werden muß. Deshalb glaube ich, daß hier auch die durch Anlage und Vererbung zum Verbrecher prädestinierten Jugendlichen (s. o. a. 1 u. 2) einzubeziehen sind.2 Nicht nur, daß hier alle Erziehungskünste als wertlos angesehen werden müßten, ihre ethischen Vorstellungen, ihr altruistisches Fühlen gelangt entweder zu keinem Wachstum oder hat doch auf einer sehr frühen Stufe der sittlichen Entwicklung endgültig Halt gemacht. Der triebhafte Verbrecher ist eine Erscheinung des Lebens, die noch immer viel zu wenig als ein gegebenes, unabänderliches Faktum betrachtet wird, weil sich verschiedene pretiöse und tendenziöse Gemüter noch zu wenig an den Gedanken gewöhnt haben, daß die Varietät der menschlichen Natur ins Unendliche geht und daß ihre eigene Person nicht das Schema der Gattung ist. In Fällen einer nachgewiesenen erblichen Belastung kann es sich nur um dauernd sichernde Maßnahmen und endgültige Versorgung im Interesse der öffentlichen Sicherheit handeln, und „es ordnet der Richter die Behandlung an, die der (nachgewiesen unheilbare) Zustand der Jugendlichen erfordert". Das Strafrecht kann in solchen Fällen nur noch Sicherungszweck haben; hier liegt aber auch die feste Grenze, hinter welche Psychiatrie und Vernunft die

1 Vor allem wird die richterliche Praxis hier auch die Blinden einbeziehen. Ihrer nominellen Aufnahme, die der Blindenfürsorgeverein zur Zeit der Beratungen durch eine Eingabe an die Expertenkommission anstrebte, bedarf es nicht. 2 Vgl. Haymann, zur Lehre vom geborenen Verbrecher, Diss., Laupheim, Klaiber, 1907.

Besserungsidee zurückweisen, wenn sie das Maß ihrer Bestimmung schwärmerisch überschreiten sollte.

Es ist durauf hinzuweisen, daß sich der § 2 Art. 14 keineswegs als ein Pleonasmus darstellt gegenüber dem Art. 15, welcher bei zweifelhaftem Geisteszustande des Täters, insbesondere auch für Taubstumme und Epileptische, im allgemeinen eine psychiatrische Untersuchung anordnet. Denn erstens geht § 2 hinsichtlich der Jugendlichen viel weiter, indem er es nicht nur bei einer ärztlichen Diagnose die ja unzweifelhaft hier der richterlichen Verfügung vorausgehen muß bewenden läßt, sondern den Richter direkt anweist, über die erforderliche Behandlung des anormalen Jugendlichen zu entscheiden. Ich glaube, daß die rein zweckmäßigen, sozialpolitischen Tendenzen des Gesetzgebers kaum deutlicher zum Ausdruck kommen konnten. Der Richter steigt von seinem Tribunal herab und fungiert administrativ.1 Zweitens scheint mir der Entwurf durch diesen § 2 die für die Periode der Jugendlichkeit besonders wichtige Bedeutung einer psychiatrischen Untersuchung aussprechen und den Richter nachhaltig auf diesen Punkt aufmerksam machen zu wollen. Und dies begründet sich auch durch die Tatsache, daß eben in diesem Lebensalter der Pubertätsenfaltung infolge der geschlechtlichen Evolutionen noch verborgene Keime einer kranken Psyche ausbrechen können, ohne sich vorläufig dem Blick des Laien aufzudrängen.2 Ob

1 Diese auffallende Verquickung richterlicher und administrativer Befugnisse wird indessen durch Art. 32 des Vorentwurfes eines Bundesgesetzes betr. Einführung des schweiz. Strafgesetzbuches bedeutend erleichtert, indem den Kantonen vorbehalten bleibt, die Verfügung über Kinder (Art. 13 und 255 des Str. G.-B.) und Jugendliche denjenigen Behörden zu übertragen, welchen der endgültige Entscheid über die Einstellung der Strafuntersuchung zukommt. Eine ähnliche richterliche Befugnis bringt der Entwurf auch in Art. 17, wonach aus Gründen der öffentlichen Sicherheit das Gericht die Einweisung eines Unzurechnungsfähigen in eine Heil- oder Pflegeanstalt anordnen kann; ferner Art. 35.

[ocr errors]

2 Ich erinnere z. B. an die negativistischen Erscheinungen der Dementia praecox, die sich der Richter mit bestem Gewissen als bübischen Trotz oder Verstocktheit auslegen wird, ferner an die Fälle leichterer Imbecillität, deren Äußerungen sich meist dem Auge des Laien entziehen. Vgl. Kraepelin, Psychiatrie, S. 73, 74, 86. „Die Dementia praecox setzt hauptsächlich während der Entwicklungsjahre ein.“ Geisteskrankheit infolge erblicher Belastung fällt gewiß mit ihrem ersten Auftreten in die Jahre der Entwicklung.“ „Insbesondere die nahen statistischen Beziehungen dieser Alterstufen zu den Leidenschaftsverbrechen, zu Körperverletzung und Widerstand, weisen auf eine psychomotorische Erregbarkeit, auf eine erleichterte Auslösung von Bewegungsantrieben hin, wie sie als eine Grundstörung der manischen Erregung und constitutionellen Manie [manisch-depressives Irresein] vorkommen."

der Entwurf darauf abzielt, und inwiefern obige Tatsachen es erheischen, für alle jugendlichen Verbrecher die Zuziehung eines Gerichtsarztes obligatorisch zu erklären, diese Frage läßt sich richtigerweise erst beantworten, wenn wir in das Wesen und Personal der Strafverfolgung gegenüber Jugendlichen einen Blick getan. (S. hierüber im zweiten Teil § 18.)

Gewiß zu begrüßen ist es schließlich, wie der Entwurf durch die erörterte Dreiteilung sowohl der biologischen als der soziologischen Auffassung der verbrecherischen Persönlichkeit gerecht wird, indem er für die aus den Verhältnissen erwachsenen jugendlichen Verbrecher und für jene, die es aus einer unbezwingbaren erblichen Veranlagung sind, ganz verschiedene Wege einschlägt.

III. Die ersten Zweifel an dieser Kategorisierung erheben sich durch die Frage: wie soll sich der Richter an Hand einer solchen Weisung in der Fülle der jugendlichen Persönlichkeiten zurechtfinden? In den Beratungen hierzu meinte Dr. Leo Weber: diese feinen Unterscheidungen vorzunehmen, damit werde dem Richter zu viel und Unmögliches zugemutet. „Ich habe das Gefühl, daß Art. 14 in der praktischen Anwendung unendlichen Schwierigkeiten begegnen wird."1 Ausgehend von der Art der heutigen Voruntersuchung und des heutigen Hauptverfahrens, wo die Feststellung des Tatbestandes ganz im Vordergrund steht, ist diese Einwendung vollkommen berechtigt. Für die individualisierende Arbeit des Richters treten jetzt die Familienverhältnisse, tritt die Abstammung, die ganze weitere Umgebung, die innere und äußere Lebensweise des Jugendlichen in erste Linie. Es eröffnet sich ein ganz neues Feld der Tätigkeit des Richters und seiner Hilfsorgane. In dieser Hinsicht bringt der Art. 14 implicite unbeweisliche Reformforderungen für das gesamte Verfahren gegenüber jugendlichen Verbrechern mit sich. Von den nötigen und geeigneten Neuerungen auf dem Gebiete des Strafprozesses (speziell für den Kanton Zürich) handelt der zweite Teil.

§ 7.

Die Altersgrenzen.

I. Allgemeines. Jede gesetzliche Limitierung birgt in sich eine Inkonsequenz, eine Härte, indem sie, stets nur den Typus im Auge, den Ausnahmen davon nicht gerecht werden kann. Indessen bleiben diese generellen Grenzlinien, diese exakte, wenn auch eines

1 S. Verhandlungen der Kommission 1893, I. Bd., S. 55.

[ocr errors]

teils willkürliche Scheidung der Individuen für die praktische Jurisprudenz unumgänglich nötig, wenn anders die für das Rechtsleben notwendige Stabilität und Sicherheit verbürgt bleiben soll. Dabei ist allerdings wie schon Appelius sagt1 mit der Möglichkeit zu rechnen, daß abnorme Fälle nachgewiesen werden können, die ganz gegen die Regel laufen, Erscheinungen, welche man eben für die Gewähr einer einigermaßen einheitlichen Judikatur in Kauf nehmen muß.2

Als Stadium der Jugendlichkeit hat der Entwurf die Periode vom 14. bis 18. Altersjahre angenommen. Professor Stooẞ (siehe Verhandlung I. 50) bemerkt hiezu: „Der junge Mensch befindet sich in diesen Jahren in einem Übergangs- und Entwicklungsstadium, das individuell höchst verschieden ist; es muß deshalb auch je nach dem Individuum eine bestimmte Behandlung Platz greifen " (kritische Periode). Wie schon erwähnt, folgt hierin der Entwurf dem Gesetze von Basel-Stadt vom 23. November 1893.

-

II. Die untere Grenze: das vollendete 14. Lebensjahr. Sie ist der Scheidepunkt zwischen Kindheit und jugendlichem Alter. Die Unterscheidung, welche durch diese Grenzsetzung vollzogen wird, ist jedoch keine durchgreifende derart, daß die Individuen hüben und drüben unter ganz verschiedene Prinzipien gestellt würden, sondern sie bedeutet vor allem eine Anpassung an die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse und an die den verschiedenen Altersklassen eigenen Bildungsstufen. Im gleichen Sinne entschied sich 1891 die deutsche Kommission für das vollendete 14. Altersjahr als untere Grenze mit der Begründung, daß im sozialen Leben diese Lebenszeit durch Beendigung der Schuljahre, dem Beginn der Lehre und den Eintritt in einen Beruf einen so gewichtigen Einschnitt machen, daß die Strafrechtspflege als soziale Wissenschaft hieran anzuknüpfen habe.

[ocr errors]

Allerdings wird nach dem Wortlaute des Gesetzes (Art. 13) ein Kind unter 15 Jahren strafrechtlich nicht verfolgt" und man könnte deshalb in dem vollendeten 14. Altersjahre die Grenze der absoluten Strafunmündigkeit erblicken; dies ist aber nur formell richtig, indem an die Stelle des ordentlichen Strafrichters die Verwaltungs- oder

1 Appelius, S. 20.

" Wie sich die Römer z. B. über diese Härte hinweghalfen, indem sie beim proximus pubertatis pupillus das gesetzliche Alter als erfüllt annahmen und die doli capacitas praesumierten, darüber in der Einleitung § 1.

Schulbehörde tritt. Virtuell erfährt das Kind im allgemeinen die nämliche Behandlung wie der verbrecherische Jugendliche. Neben der Anstaltsbehandlung ist für das Kindesalter Unterbringung in einer fremden oder in der eigenen Familie vorgesehen; ferner verlangt Art. 41 des Vorentwurfes eines Einführungsgesetzes, daß die Kantone auf dem Wege der Vereinbarung die Ausscheidung der Anstalten in Erziehungshäuser für Kinder und Zwangserziehungsanstalten für Jugendliche vornehmen sollen. Als Strafe kommt für Kinder nur Verweis oder Schularrest, verhängt durch die Schulbehörde, in Betracht, während für den Jugendlichen eine vom Strafrichter ausgesprochene Freiheitsentziehung bis zu zwei Monaten vorgesehen ist.

2

Es ist klar, daß man durch diese Sondernormierung für beide Teile die den Umständen und persönlichen Verhältnissen angemessene Behandlung im Auge hat, indem sowohl hier als dort die Besserung, Adaption als oberstes Prinzip angestrebt wird. Das Schulkind erfordert eine andere Erziehungsmethode als der junge, selbständige Lehrling. Eine prinzipielle Unterscheidung außer den genannten

[ocr errors]

formellen existiert nicht. Diese Grenze ruht weder auf strafrechtlichen Theorien, noch hat sie irgendwelche physiologischen, persönlichen Momente für sich; sie wird - wie gesagt einzig durch Erwägungen sozialer Art bedingt (Ende der allgemeinen Schulpflicht etc.) Da nun Art. 13 des Vorentwurfes, welcher von den verbrecherischen Kindern handelt, die Schule zu strafrichterlichen Funktionen heranzieht was er hinsichtlich den der Schule entwachsenen Jugendlichen nicht mehr kann stellt sich die untere Grenze auch als eine natürliche Konsequenz der durch die sozialen Verhältnisse ermöglichten, verschiedenen Behandlungsweise dar.

3

Es erscheint mir deshalb als wertlos, von dieser unteren Limitierung der Jugendlichkeit viel Aufhebens zu machen, wie Gallacchi dies tut. Ebenso dürfte die Kontroverse, welche anläßlich dieser Festsetzung in den Verhandlungen durch die Motion von Professor Girard für das vollendete 16. Altersjahr hervorgerufen wurde, beigelegt sein.

III. Die obere Grenze: das vollendete 18. Lebensjahr. Sie soll nach dem dem Entwurf zugrunde liegenden Gedanken die Grenze der 1 Art. 33 Vorentw. des Einf. Ges.; warum dies nicht auch für die Jugendlichen geschieht, s. III. Abschnitt unter „Die Anstalten".

2 Vgl. dazu Geschichtl. Einleitung § 2 und im Bes. das erwähnte Gesetz von Staatsrat Cornaz für Neuenburg (1893).

S. Seite 56 seiner mehrfach zitierten Schrift.

« PreviousContinue »