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das Gesetz von Colorado (act concerning delinquent children) v. J. 1903 geht sogar soweit, daß es unter dem Ausdruck delinquent children “ nicht nur die straffälligen Jugendlichen, sondern auch alle diejenigen jugendlichen Personen unter 16 Jahren zusammenfaßt, deren Lebenswandel derart ist, daß sie voraussichtlich zu Gesetzesübertretern würden.

II. Damit ist zugleich darauf hingewiesen, welchen engen Zusammenhang mit der staatlichen Fürsorgepolitik überhaupt das Jugendstrafrecht gewonnen hat. Die verbrecherische Handlung wird nicht mehr als die Krankheit selbst, sondern als augenfälliges, erstes Symptom eines ungesunden individuellen Zustandes betrachtet. Professor Henderson (Chicago) sagt in seinem Buche „Einführung in das Studium der verwahrlosten und entarteten Klassen': „Es besteht Solidarität, organische Verbindung zwischen den Verwahrlosten und Straffälligen;" er bezeichnet die Einteilung in verwahrloste und straffällige Jugendliche als „scondary formations", als willkürliche Kategorisierung unseres Denkens nach zufälligen Symptomen. In England ist es seit dem act to provide for the education and maintenance of pauper children in certain schools and institutions (1862) der Richter, der die Verwahrlosung feststellt. Dieselbe Annäherung rein fürsorglicher Maßregeln und richterlicher Befugnis findet sich auch in New York; Massachusetts (Gs. vom 7. Mai 1903) verschmilzt neglected und delinquent children und den gleichen Gedanken spricht das Gesetz vom 18. Juni 1904 für Frankreich aus3: Die Assistance puplique kann demnach Jugendliche, die sich wegen Unmoralität, Grausamkeit oder verbrecherischem Hang nicht zur bloßen staatlichen Fürsorge cignen, vor den Richter stellen, selbst wenn sie eine strafbare Handlung nicht begangen haben, damit dieser die Einweisung in eine für straffällige Jugendliche bestimmte Anstalt verfüge. In Deutschland ward der Gedanke zuerst in der Literatur1 rege, und in diesem Sinne fordern auch die Vorschläge der ersten Kommission der internationalen kriminalistischen Vereinigung (Gruppe deutsches Reich) von 1891,

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2 S. im oben erwähnten Gesetz §§ 290/1.

Loi relative à l'éducation des pupilles de l'assistance publique difficiles ou vicieux.

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4 Aschrott: Die Behandlung der verwahrlosten und verbrecherischen Jugend" postulierte, daß staatliches Einschreiten in jedem Falle von Verwahrlosung, die sich nicht nur durch strafbare Handlung kundzugeben brauche, geboten sei. (S. 37.) — Vgl. auch Appelius S. 19/20.

daß die Zwangserziehung verwahrloster Kinder im Zusammenhange mit der Zwangserziehung und Bestrafung kindlicher und jugendlicher Verbrecher durch besonderes Reichsgesetz zu regeln sei.'

Der Entwurf steht also nicht allein, wenn er das Jugendstrafrecht zu einem Teil der Fürsorgegesetzgebung gemacht hat. Es ist mit die Auffassung der modernen Gesetzgeber, daß alle Kinder und Jugendlichen, welche durch eine Missetat die Aufmerksamkeit des Richters auf sich gezogen, nur ein Ausschnitt, ein Bruchteil der großen Zahl verwahrloster, verdorbener und erziehungsbedürftiger Jugendlicher überhaupt sind. Ihre Tat ist nicht mehr Grund, sondern nur Veranlassung der nachfolgenden Behandlung.

III. Die Grenzen zwischen Strafrecht und staatlicher Fürsorge sind dadurch verwischt worden, der Zusammenhang zwischen dem Jugendstrafrecht und dem Strafrecht überhaupt hat sich völlig gelockert. Sieht die Behandlung jugendlicher Verbrecher nicht beinahe aus wie ein Anleihen des Staates an das Strafrecht, um von ihm gesetzliche Zuchtgewalt und Zuchtrecht zu erlangen? Appelius weist (S. 19) deutlich auf diese Notlage des Staates hin: „Denn wenn auch für die sittlich Unreifen die staatliche Strafe nicht am Platze ist, so kann doch der Staat nicht untätig zusehen, daß dieselben Verbrechen begehen und wieder begehen." In dieser Notlage, wo der Staat nicht zusehen und auch nicht bestrafen kann, greift er, da ja der Tatbestand eines Verbrechens als Veranlassung zugrunde liegt, instinktiv nach dem Strafrecht, um sogleich inne zu werden, daß dieses dabei seiner gegenwärtigen Prinzipien sich entäußern muß, wenn es anders die Lücke ausfüllen soll. Dies giebt dem ganzen System ein bedenkliches Janusgesicht: auf der einen Seite Vergeltungs- und Strafgedanke, auf der andern reines Zweckmäßigkeitsprinzip; dort steht die Tat, hier die Persönlichkeit im Vordergrund. Auch Appelius fühlt diesen innern Zwiespalt deutlich heraus, wenn er sagt (S. 38): „Wir haben allerdings etwas neues in den Rahmen des öffentlichen Reichsrechtes einzufügen beabsichtigt, indem wir die gesamte Behandlung verbrecherischer und verwahrloster Kinder aus dem Gesichtspunkt einer öffentlich-rechtlichen Disziplin in engste Verbindung mit der Strafrechtslehre brachten." Dieser Verfasser wäre

1 Dies geschah durch das deutsche Fürsorgeerziehungsgesetz, 1901, wenigstens für die Verwahrlosten.

fähigen".

Dem Sinne des Entwurfes gemäß würde man sagen: „Der Besserungs

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geneigt, das Jugendstrafrecht als eine Hilfsdisziplin des Strafrechtes aufzufassen, und in diesem Sinne sprach die Berliner Konferenz (5. und 6. Dezember 1891) - wie erwähnt — seinerzeit die Hoffnung aus, daß die Behandlung jugendlicher Verbrecher einheitlich durch ein besonderes Reichsgesetz geregelt werde. Wenn man auch aus diesen Gründen darauf denken könnte, die Persönlichkeit des Jugendlichen ganz aus dem Strafrecht auszuscheiden und seine Behandlung ganz unter die allgemein-sozialpolitische Gesetzgebung zu stellen wie dies z. B. 1902 für den Staat Massachusetts geschah so dürfen anderseits die noch bestehenden Beziehungen zum gewöhnlichen Strafensystem nicht übersehen werden.

1. Bleiben auch für das Jugendstrafrecht die Bestimmungen des allgemeinen Teils (Rückfall und Verjährung, Versuch, Teilnahme etc. s. d.) z. T. bestehen.

2. Der enge kriminalpolitische Zusammenhang zwischen den präventiven Maßregeln gegenüber Jugendlichen und dem Steigcn und Sinken der Kriminalitätsziffern bei Erwachsenen liegt auf der Hand. Die Behandlung der Jugendlichen als Verbrechensprophylaxe bedingt zwar keinen innern, im Wesen der Bestimmung ruhenden, wohl aber einen höchst wirkungsvollen, sozusagen organischen Zusammenhang mit dem Wirkungskreis der normalen Strafrechtsexekution.

3. Ist es eine Frage der gesetzgeberischen Diplomatie, ob es nicht zeitgemäßer ist, die neuen Ideen noch unter dem Schutze des hergebrachten Systems völlig feste Wurzel fassen und gedeihen zu lassen, statt voreilig das Radikalmittel der völligen Trennung anzuwenden. Ich möchte ein schrittweises Vorgehen eher billigen. 4. Unverkennbar ist schließlich auch der wohltuende Einfluß, den das Strafrecht z. T. schon heute durch die bahnbrechenden Neuerungen der Jugendbehandlung erfahren hat und noch erfahren wird. Es wird später noch des näheren zu zeigen sein, (siehe dritter Abschnitt des Hauptteils), wie der bedingte Straferlaß und das Probationssystem auf dem Umweg über das Jugendstrafrecht sich in den Kreis der gewöhnlichen Exekutionsmittel Eingang verschafft haben. So liegt vielleicht gerade hier dem Strafrecht ein Quell bloß, aus dem es in seiner vielbeklagten

'S. Beschlüsse dieser Konferenz, Nr. 7.

Einer solcher Verbindung für das deutsche Rechtsleben scheint A. Hartmann geneigt. Vgl. Hartmann, Strafrechtspfl. in Amerika, 1906, S. 278. 3 S. u. § 8.

Reformbedürftigkeit junge und doch schon erprobte Institutionen schöpfen kann. Diese Erwägung, diese nutzbringende, stehende Kommunikation scheint mir am meisten für Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Verbindung zu sprechen, ganz abgesehen davon, daß man andernfalls zur Feststellung der Verwahrlosung und des Tatbestandes darauf angewiesen wäre, die strafrichterlichen Organe gleichwohl in Anspruch zu nehmen.

IV. Es ist schon ausgesprochen worden,1 daß der staatlichen Erziehung verbrecherischer Jugendlicher ein sozialistischer Zug anhafte, daß also daran eine politische Grundfärbung nicht zu verkennen sei. Dies wäre dann richtig, wenn eine Pflicht des Staates gegenüber dem Einzelnen bestünde, wenn der Einzelne ein Recht, einen Anspruch auf staatliche Erziehung geltend machen könnte (wie z. B. auf Arbeit); vorläufig handelt es sich aber um ein Recht des Staates, der organisierten Vielheit gegenüber dem einzelnen Individuum, ein Recht, das für die persönliche Freiheit des Einzelnen und dessen Familie empfindlich genug werden kann. Die soziale Pflicht, die der Staat durch die besondere Aufmerksamkeit und Behandlung gegenüber der verbrecherischen und verwahrlosten Jugend aus reinen Wohlfahrts- und Selbsterhaltungsgründen anerkennt, ist ein Faktum, eine geschichtliche Tatsache und nicht die Kehrseite eines Jus.

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V. Nach den bisherigen Erörterungen und dem innewohnenden Zwecke des Jugendstrafrechtes versteht es sich von selbst, daß dieses zunächst die Spezialprävention im Auge, daß es sich vor allem um das einzelne verbrecherische Individuum zu bekümmern hat. Dies um so mehr, als besonders in den ersten Jahren der Jugendlichkeit für die Wirkungen einer berechnenden Generalprävention der Boden noch nicht vorhanden ist. Bei Kindern, bei denen der Wunsch nach Befriedigung einer Begierde, ein Lustgefühl so stark auftritt, ohne daß noch ethische Motive von irgendwelcher erheblichen Kraft entgegenzuwirken vermögen und denen dabei noch die richtige Vorstellung von der Bedeutung der Kriminalstrafe und iher Wirkung auf das spätere Fortkommen fehlt, entbehrt sie jeder vorbeugenden Kraft."2 Für die spätere Periode der Jugendlichen mag indessen das Abschreckungsprinzip gewiß zu einiger Geltung gelangen, aber auch hier, bestätigt Irrenarzt Leppmann, ist die Furcht vor einer andauernden Zwangserziehung noch stärker als vor einer Strafe3,

1 Aschrott in seinem erwähnten Buche, S. 44/5.
Appelius, S. 50.

• Goldtam mers Archiv, 39. Jahrgang, S. 275 ff., aus den Kommissionsberatungen für das Deutsche Reich.

denn jene stellt Anforderungen an die ganze physische und geistige Persönlichkeit, währenddem das Gefängnisleben Ordnung, Reinlichkeit und regelrechte Kost verheißt und dafür höchstens Leistungen körperlicher Arbeit verlangt.

VI. Die Erwägung liegt nahe, daß hinsichtlich der Jugendlichen die Streitfragen zwischen Determinismus und Indeterminismus virtuell auf die Seite gestellt sind, da die Alternative „Schuld oder Unschuld" (im philosophischen Sinne, verbrecherisches freiheitliches Wollen oder zwingende Vorstellung) für die Bestimmung des staatlich berechtigten Einschreitens hier nicht in Frage liegt. Der alte Streit zweier grundsätzlich verschiedenen Lebensanschauungen1 wird obsolet, sobald man erkennt, daß beide in praxi das gleiche, die Umwandlung, Adaption des jugendlichen Individuums wollen.

VII. Die Vertreter der Vergeltungsidee stützen sich heute mit Vorliebe auf das im Volke lebende Rechtsbewußtsein und glauben von diesem umfangreichen und soliden Boden aus entscheidende Schläge gegen die Neuerer führen zu können, indem sie den Hang nach Vergeltung nicht nur als eine rechtlich relevante Tatsache, sondern als das im Volke bewußt lebende Strafrechtsprinzip hinstellen.

Der Begriff eines Rechtsbewußtseins des Volkes („tacitus consensus omnium") ist an und für sich schon sehr diskutabel, insofern nicht von einem geschlossenen, gleichheitlichen Bewußtsein des „Volkes", sondern höchstens von der Rechtsanschauung einer überwiegenden Mehrheit im Volke die Rede sein kann; und dann ist es immer noch sehr fraglich, ob nicht diese Anschauung blos ein unbewußtes, triebartiges Empfinden sei, ob sie nicht nur in einzelnen Köpfen dieser Mehrheit wirklich anschauliche Gestalt annehme, nicht nur bei wenigen aus einem bloßen Instinkt sich zur bewußten Idee erhebe. Diese einzelnen Köpfe, wird man dann finden, sind meistens diejenigen, welche nachträglich in großen Worten vom Rechtsbewußtsein des

1 Wenn auch der Ursprung der indeterministischen Lehre ein transcendentaler, metaphysischer gewesen sein mag, indem man sich auf die göttliche Bestimmung des Menschen berief, so läßt sich die Lehre jetzt auf Schiller'sche Ànschauungen (Indepedenz der moralischen Persönlichkeit von der Natur) am ehesten zurückführen oder doch mit ähnlichen idealistischen Auffassungen in Beziehung setzen. Es ist eine ernste Ironie des Schicksals, daß Schiller gerade in Hinsicht auf das Strafrecht seinen liebsten Ideen, dem Gipfelpunkt seiner ästhetischen Prinzipien, in der Novelle „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ ein Dementi schreiben sollte. Der Determinismus hat den Sensualismus zur Grundlage; doch verträgt er sich auch mit dem Pantheismus und mit jeder Auffassung, die den Menschen und sein Handeln in keinem Punkte außerhalb die Natur stellt.

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