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Leitmotive: Die Interessenkollision im Jugendlichen-Prozeß. Prae-

ponderanz des Untersuchungsverfahrens. Konnex zwischen urteilen-
den und vollziehenden Behörden. Beantwortung der Frage nach der
absoluten prozessualen Sonderstellung jugendlicher Verbrecher. Auf-
gabe: Versuch eines Kompromisses.

Geschichtliches: The American Juvenile Courts. Eigenartige

Stellung des Staates Massachusetts. Versuche in Deutschland. Neuen-

burg: Commission de discipline. Der zürcher. Entwurf zu einer

Strafprozeßordnung.

§ 19. Untersuchung und Anklage.

Anzeige-Befugnis und -Pflicht. Doppelter Untersuchungszweck.

Vorschlag Gautier: Richterliches Interview. Versuch einer Trennung
der Untersuchung in zwei unabhängige Teile. Jugendanwalt. Um-
schreibung seiner Kompetenz als Untersuchungsbeamter. Der Unter-
suchungsverhaft. Erlaß desselben gegen Kautionsstellung. Anklage-
behörden. Erweiterung der Anklageschrift.

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Sachliche Zuständigkeit der Gerichte. Ausschluß des Geschworenen-

gerichtes und Ersatz desselben durch das Obergericht. Beispiele des
Auslandes. Fakultative Zuständigkeit des Schwurgerichts. Bezirks-
gerichtliche Fälle. Verhandlung vor dem Gerichtsvorstand.

Verteidigung: Gefahr und Nutzen. Aufgaben des Verteidigers.

Zuziehung von Laien zur Verteidigung jugendlicher Personen. Aus-

schluß der Öffentlichkeit. Zwangsweise Ladung von Drittpersonen

(Eltern und Vormünder).

§ 21. Rechtsmittel und nachträgliche Beschlüsse des urteilenden Gerichts. 156

Die berechtigten Personen. Suspensiveffekt der Rechtsmittel.

Übergangsfälle. Verbot der Reformatio in pejus. Beschlüsse über
endgültigen Straferlaß und vorläufige Entlassung. Zuständigkeit der
urteilenden Gerichte.

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The American Probation Officer. Ausgestaltung in Illinois vor-

bildlich. Seine Aufnahme in Europa. Versuche einer Einführung
in das Beamtensystem des Kantons Zürich.

Schlusswort.

Einleitend:

Die Grundlinien der geschichtlichen Entwicklung des Jugend

strafrechts.

Parvum tempus non sufficit ad res magnas et arduas.

Baldus.

In dieser geschichtlichen Einleitung handelt es sich darum, die Ausgangspunkte und tradierten Grundlagen, auf denen der Entwurf hinsichtlich des Jugendstrafrechts sich aufbaut, aufzusuchen, mit andern Worten: uns die Stellung des Gesetzgebers zu rekonstruieren und zu untersuchen, wie er das ihm von der Geschichte überlieferte Material benützte. Wie überall, lassen sich die neuernden Vorzüge des Entwurfs auch hier nur im Lichte der Historie, aufgefaßt als das Produkt gegebener Faktoren, richtig würdigen, wie wir gleichfalls noch bestehende Inkonsequenzen und Undeutlichkeiten nur als Folgen einer stetig fließenden, unfertigen Entwicklung verstehen und aufhellen können.

§ 1.

Die Herrschaft des,,Discernement"-Begriffes.

Das Problem der Strafbarkeit jugendlicher Personen beschäftigtewie begreiflich schon die Römer,1 ohne daß es ihnen aber gelungen wäre, zwischen absoluter Strafbarkeit und Straflosigkeit sichere Grenzlinien zu ziehen oder auch nur endgültige abstrakte Wertbegriffe, einen festen Maßstab zu gewinnen, um darnach die Vergehen jugendlicher Täter auf ihre Strafwürdigkeit zu prüfen. Bald ist es die Tat, welche das Kriterium abgeben muß, wie in der lex 37 § 1 D IV. 4., wonach bei Delikten, besonders den schwerwiegenden, ein Jugendlicher unter 25 Jahren das Recht auf die in integrum restitutio (Begnadigung) verliert, wenn nicht allenfalls die Rücksicht auf das jugend

1 Mommsen: Röm. Strafrecht, S. 75 u. 76. Materialsammlung bei Berger: Jugendschutz, S. 1—21. · Gallacchi: I delinquenti minorenni, S. 8 u. 9.

liche Alter den Richter zu einer Strafminderung bewegt, was aber nie bei Ehebruch und ähnlichen Delikten geschehen soll; bald ist es wieder die auf das Verbrechen gesetzte Strafe selbst, um derentwillen Strafmilderung eintreten soll. So sagt Pomponius in lex 23 § 2 D XXI. 1., ein impubes könne keine Todesstrafe erleiden. Schließlich ist es die Persönlichkeit, das in ihr ruhende intellektuelle Moment, worauf abgestellt werden muß. In diesem Sinne sagt Julian', daß auch ein Jugendlicher unter 14 Jahren einen Diebstahl begehen könne, vorausgesetzt, daß er "doli capax" sei; dies treffe aber niemals zu für einen infans und ebenso wenig für einen impubes, der nur Beihilfe leistete (offenbar, weil der intellektuelle Urheber anderswo zu suchen sei). Der gleiche Gedanke der intellektuellen „capacitas criminis" liegt zu Grunde, wenn bei Beurteilung einer strafbaren Handlung zwischen dem admodum impubes und dem proximus pubertati unterschieden wird, indem bei letzterem das „intellegere se delinquere" vorausgesetzt werden darf.2 Unzweifelhaft liegt auch in der erwähnten lex 37 § 1 D IV. 4., wenn vielleicht auch nicht deutlich bewußt, derselbe Gedanke versteckt (also ein persönliches Moment), weil das Delikt des Ehebruchs mit der körperlichen Reife eine gewisse geistige Potenz voraussetzt.

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Bei aller Unbestimmtheit läßt sich somit doch der eine subjektive Begriff des intellegere injuriam" herausschälen; ihn hat das kanonische Recht übernommen und in die allgemeine Formel gebracht: Puer non debet ita severe puniri sicut maior. (Decret. Greg. IX, lib. 5, tit. 23, cap. 3). Mit der Reception der ersten allgemeinen Strafrechtsbegriffe, wie sie die mittelalterlich-italienische Jurisprudenz aus der römischen und päpstlichen Gesetzgebung entwickelt hatte, drang auch dieser Unterscheidungsbegriff über die Alpen. Man glaubte, den Maßstab, das typische, unterscheidende Merkmal für die Periode zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit gefunden zu haben. So

lex 1, § 5 D XVI, 3 lex 23 D XXXXVII. 2.; Gajus, Instit. III. 208. Ebenso Ulpian: lex 5 § 2 D IX. 2. der mit Nachdruck die Frage des Pegasus wiederholt: quae enim in eo culpa sit, cum suae mentis non sit ?" (hinsichtlich des infans) und einen Jugendlichen von 7-14 Jahren nur dann aus der lex Aquilea haften läßt, „si sit iam injuriae capax.“

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2 Gajus, instit. III. 208.

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Decret. Greg. IX, liber 5, tit. 12 caput 6 und 1; tit. 23 caput 1; tit. 38 caput 12. Decreti II. pars, causa 15, quaestio 1, cap. 2: „Sane sunt quidam, qui facere von possunt, utputa furiosus et impubes, qui „doli capax“ non est." 4 Gallacchi: 5. 10.

Berger: 31-91.

sagt die Bambergische Halsgerichtsordnung von 1507 in Art. 190 „von jungen Dieben", daß man aus den Tatumständen auf die Geriebenheit und Pfiffigkeit und somit auf die Strafwürdigkeit des jugendlichen Täters schließen solle; „wo aber der dieb nahent bey 14 jaren were also, daß die bosheyt das alter erfullen möcht, so süllen Richter und Urteyler deßhalb auch rats pflegen" .' Durch die Carolina (s. Art. 179) und die folgenden jahrhundertelangen Wirren partikulärer Rechtszersplitterung erhält sich der Gedanke fort.

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Fassen wir die Ausdrücke des römischen Rechts,rei intellectum", doli capacitas" etc. sinngemäß unter dem neugeprägten Schlagwort des Discernement" zusammen, so stehen wir auf fränkischem Boden und sind in den Anfang des vorhergehenden Jahrhunderts gerückt, in die Zeit der Entstehung des Code pénal (§ 66-69). 1851 übernimmt Preußen, wo historisch alle Vorbedingungen dazu gegeben waren, durch die Reception des französischen Strafrechts die Idee vom „Unterscheidungsvermögen" (Str. Ges. B. § 42); und als man endlich an die Vereinheitlichung des deutschen Strafrechtes (zuerst für den norddeutschen Bund) ging und dieses 1871 zum Reichsstrafgesetzbuch erhoben wurde, war es nur eine folgerichtige Konsequenz der geschichtlichen Entwicklung, daß das Erbe des römischen Rechts bewahrt blieb (Reichstr. Ges. B. § 56: die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der Tat erforderliche Einsicht). Wohl ebenso unter dem Einfluße antiker Jurisprudenz als ihrer späteren Träger, im besondern des französischen Rechts, hielten alle Staaten europäischer Kultur bis dahin Schritt.2

In der Schweiz sind es zunächst die westschweizerischen Kantone, welche, vom Code pénal direkt inspiriert, auf die geistige Entwicklung des jugendlichen Täters abstellen. So zuerst die Waadt im § 53 des Strafgesetzbuches von 1843, Freiburg 1849, Genf folgte 1874 (§ 49), und Neuenburg nahm den Gedanken noch in sein Strafgesetzbuch von 1891 auf (Art. 78). Lange Zeit hindurch war es nur noch der Kanton Graubünden, welcher den schroffen Übergang von

1 Ähnlich Art. 205 der Bambegensis.

Gallacchi: S. 11-15. Von Interesse mag nebenbei die Tatsache sein, daß das kaiserliche japanische Reich in seinem Vorentwurf zu einem Strafgesetzbuch mit der bekannten und bewunderten Assimilationsfähigkeit die Lehre vom „Discernement" kritiklos aufgenommen hat. S. Übersetzung von Assotaro Akada (Berlin 1899) Art. 53-55.

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