Page images
PDF
EPUB

Zahlbegriffe mystische Beziehungen witterten und aufsuchten. Die Zahlensymbolik des Pythagoras, dem die Zahlen zu Sinnbildern der Gedanken und zum Urgrund alles Seienden wurden, verlockte Geister wie Cassiodor, Gregor den Grossen und andere zu Spekulationen mit der Zahlenlehre und zur Anwendung insbesonders auf die heilige Schrift. Die Klosterlehrer des frühen wie des späteren Mittelalters quälten sich und ihre Schüler mit solch fruchtlosen, schemenhaften Grübeleien und Träumereien 1. An den grossen Geheimnissen jedoch, zu deren Lösung die Mathematik, namentlich aber die Naturwissenschaften auffordern, gingen sie ahnungslos vorüber; hierin war sich Mittelalter und Altertum gleich 2.

Ohne einige Kenntnisse in der Astronomie vermochte man das Studium des Computus nicht zu betreiben. Dieselbe bestand daher als eigenes Unterrichtsfach im Lehrgange des Quadriviums. In Gallien war es zuerst Gregor von Tours, der über Astronomie schrieb (»De cursu stellarum ratio, qualiter ad officium implendum debeat observari«) allerdings nicht zu Unterrichtszwecken, wie er selbst angiebt, sondern um den Mönchen und Clerikern die Kenntnis der für das nächtliche Psalmengebet festgesetzten Stunden zu ermöglichen. Im Übrigen steht Gregor als Astronom nicht höher als es der Geist seiner Zeit mit sich brachte. Auch ihm sind die Kometen die Vorboten schweren Unheils. Niemand darf ihn

1 Um an einem Beispiele zu zeigen, in welcher Form dieser Zahlenmysticismus betrieben wurde, diene ein Beleg aus Alcuins Brief an seinen Schüler Gallicullulus, der ihn über das Wesen der Zahlen im Alten und Neuen Testamente gefragt hatte. Von 10 bis 1 abwärts liefert Alcuin aus der heiligen Schrift folgende Auslegungen: 10 Gebote sind es, welche auf zwei steinernen Tafeln durch Moses und Aaron dem Volke Gottes gegeben wurden 10 Plagen kamen über Ägypten, dadurch 10 Verfolgungen wurde

mit das Volk Gottes befreit würde

[ocr errors]
[ocr errors]

die Kirche Christi gekrönt nach der 10. Generation kam die Sündflut und vernichtete die Gottlosen nach 10 Königen der jüngsten Zeit wird der Antichrist geboren, mit dem die Gottlosen untergehen. Bei der Zahl 1 angekommen lehrt Alcuin: 1 Arche gab es, in welcher beim Untergange der Menschen die Guten gerettet wurden 1 Kirche gab es, durch welche die Getreuen gerettet wurden, während die Sün der untergehen 1 Durchgang durch das rote Meer gab es für das israelitische Volk, damit es das gelobte Land erhielt 1 Taufe gibt es, durch welche man ins ewige Leben eingehen muss. Achery, Spicileg. III. p. 321.

2 Gabr. Meier, 1. c. S. 5.

3 Gregor Tur. De cursu stellarum c. 16.

darum tadeln; derselbe Wahnglaube beschattet noch im 19. Jahrhunderte die Köpfe.

Als litterarisches Hilfsmittel beim Unterrichte in der Astronomie kannte man die »>Phaenomena«<, das astronomische Lehrgedicht des Alexandriners Aratus, lateinisch bearbeitet von Caesar Germanicus, dem Neffen und Adoptivsohn des Tiberius, welch letzterer denselben bekanntlich durch Gift beseitigen liess (19 n. Chr.) Da es als Schulbuch sehr beliebt war, wurde es häufig nachgedichtet, interpoliert und aus Hygin (dem wahrscheinlich zur Zeit Hadrians lebenden Schriftsteller über Feldmesskunst), Plinius, Sueton, dem Mathematiker Censorinus (3. Jahrh. n. Chr.) und Martianus Capella reichlich mit Scholien versehen. Auch Boëthius schrieb, wahrscheinlich Claudius Ptolemäus benützend, ein Lehrbuch der Astronomie, das aber seit dem 11. Jahrhundert leider verloren ist1.

Das Mass der astronomischen Kenntnisse, welches die Schulanstalten Galliens im 5., 6. und 7. Jahrhundert ihren Schülern beibrachten, war kein grosses und mit der Lehre vom Thierkreise, von den Fix- und Wandelsternen, den Solstitien und Äquinoctien, den Mond- und Sonnenumdrehungen ungefähr abgethan 2. Einige kosmographische Angaben, die sich über die Kugelgestalt der Erde, über deren Einteilung in fünf Zonen, über das von Aristoteles festgestellte Sphärensystem, über meteorologische Erscheinungen und über die Beschaffenheit der Himmelskörper erstreckten, wobei abermals Aristoteles und auch Plinius ihr entscheidendes Wort mitsprachen, schlossen im allgemeinen das Studium der Astronomie ab.

Arithmetik und Astronomie, namentlich aber jene, bildeten die unvermeidliche Stufe zur Musik. Nicht wer mit einem guten Gehöre, mit schöner Stimme und musikalischen Anlagen begnadet war, oder etwa ein Instrument vollendet spielen konnte, durfte deshalb auch schon Anspruch erheben, als Musiker betrachtet zu werden. Die Musik im Quadrivium war ein Zweig der Mathematik, eine exakte Wissenschaft wie diese. Schon im grauen Altertume löste die speculative Forschung die Harmonielehre dieser Ausdruck darf hier nicht im modernen Sinne gefasst werden in eine Zahlenlehre auf. Stets spielte die Lehre von den musikalischen Intervallen in die Theoreme der Arithmetik, nament

1 Cantor, 1. c. p. 492.

2 Léon Maitre, 1. c. p. 235.
3 Günther, a. a. O. S. 126.

lich in die Proportionenlehre hinein, und griechische Musiktheoretiker, wie der berühmte Mathematiker und Astronom Claudius Ptolemäus, suchten die pythagoräische Harmonik nicht nur auf das Wesen und Werden der vernünftigen Naturen, insbesonders der menschlichen Seele, sondern auch auf die astrologischen Erscheinungen anzuwenden 1.

Boëthius mit seinen fünf Büchern »De musica« steht durchweg auf dem Standpunkte, welchen Pythagoras mit seiner arithmetischen Harmonik vorgezeichnet hat. Der römische Gelehrte wurde in der Musikwissenschaft die eingebürgerte Autorität des ganzen Mittelalters, angefangen von Isidor von Sevilla bis auf Franco von Köln, Marchetto von Padua (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts) und Franchino Gafori († 1522). Selbst der grösste Musiktheorist des 16. Jahrhunderts, Gioseffo Zarlino von Chioggia (1519-1590), der Vater der neueren Harmonielehre, geht noch überall von der pythagoräischen Zahlenharmonie aus.

zu messen.

Die Musiklehrer in den Kloster- und Kathedralschulen gebrauchten, dem Beispiele des Boëthius gemäss, ein angeblich schon dem Pythagoras bekanntes einsaitiges Instrument, das Monochord, um daran die arithmetischen Proportionen der Tonschwingungen Das Monochord, von welchem unser modernes Klavier den Ursprung nahm, besteht, wie der Name schon andeutet, aus einer einzigen Saite, die über einen, auf einem geteilten Brette befestigten Steg läuft und am untern Ende mit Gewichtstücken oder durch eine andere beliebige Vorrichtung straff angespannt wird. Setzt man die Hälfte der Saite in Schwingung, so erhält man die Oktave des Grundtons, wenn 4/5 schwingen, die grosse Terz, bei 2/3 die reine Quinte, also die Proportionen der Dreiklangsintervalle. Es konnte somit diese Art Musik lediglich von einem tüchtigen Mathematiker gelehrt und betrieben werden, wesshalb sich ihr auch nur befähigte Schüler widmeten.

Wenn hier ein flüchtiger Blick auf die Geometrie unsere Übersicht der sieben freien Künste beschliesst, so geschieht dies, weil dieser Gegenstand auch im Programm der mittelalterlichen Schule als der mindest wichtige und letzte im Range angesehen wurde. Besass man ja nicht einmal ein Unterrichtsbuch der Geometrie, denn der von Boëthius hergestellte Auszug »De Geometria<< aus Euclid wurde erst im 11. Jahrhunderte durch Gerbert aufgefunden.

1 Alb. Frhr. v. Thimus, Die harmonikale Symbolik des Altertums, 2 Teile S. 301. Köln. 1868.

Bis dahin fristete man das geometrische Wissen aus Martianus Capella und Cassiodor. Jener verquickt aber die Geographie mit der Geometrie, indem er die Gestalt und Grösse der Erde ausmisst, den Umfang derselben nach Eratosthenes auf 252,000 Stadien angibt, Europa, Afrika und Asien beschreibt und endlich mit der geometrischen Terminologie der Griechen schliesst1. schliesst1. Ein geometrischer Unterricht in unserem Sinne fand in den Schulen kaum statt, sonst hätte der heil. Frodebert († um 673 als Abt von Moutier-la-Celle bei Troyes) da er noch Schüler zu Luxieul war, wohin er von der Kathedralschule zu Troyes gekommen, sich nicht anstatt eines Zirkels einen Mühlstein und diesen noch dazu um den Hals geben lassen, als er einst zu einem Mitbruder um einen Zirkel geschickt wurde. Er kannte also einen solchen noch gar nicht2.

[ocr errors]

Allein mochte auch die Geometrie das Aschenbrödel der mittelalterlichen Schulwelt sein, so verkünden doch die grossartigen Dome und Münster mit mächtig beredter Sprache, dass ihre Erbauer nicht arm an geometrischen Kenntnissen und mathematischem Wissen gewesen sein können. Ihre Erbauer aber waren entweder Mönche oder, wenn Laien, doch meistens Schüler der Klosterschule, und ein pietätvoller Sinn wird sich daher nicht weigern, der edlen Thätigkeit dieser Schule ein dankbares Andenken zu widmen. »Zwar ist sie nicht imstande gewesen,« sagt Kaufmann, »eine gewisse allgemeine Bildung in weite Kreise zu tragen -die Abneigung der Laien gegen jede Beschäftigung mit Büchern hinderte dies aber sie bildete den geistlichen Stand zu einem Hüter der Cultur. Inmitten des ewigen Waffenlärms, der Europa erfüllte und die Mönche selbst bisweilen zwang, das Schwert zu nehmen und ihre Zelle zu verteidigen, erhoben sie die Klöster zu Zufluchtsorten friedlicher Thätigkeit. Die sorgfältige Bestellung des Gartens, der kühne Bau von Kirchen und Palästen, von Brücken und Mauern, das Malen und Holzschneiden, das Bilden in Erz und Stein und alle die feineren Künste, welche lange Zeit ausschliesslich von Mönchen gepflegt wurden, sind zwar nicht unmittelbar in der Klosterschule gelehrt worden, aber unter rohen Mönchen hätten sie nicht solche Blüte erreicht. Ausserdem danken wir dieser Schule alles, was von

1 Martianus Capella, De nuptiis Philol. et Mercurii ed. F. Eyssenhardt. p. 246 squ.

2 Mabill., Acta SS. O. S. B. II. p. 627: quid esset circinus penitus ignorabat, hoc tantum esse existimabat, quod impositum collo ferebat. (Vita S. Frodeberti.)

Denk, Gallo-Fränkisches Unterrichts- u. Bildungswesen.

16

242 Siebentes Kapitel. Die Bildungsmittel und das Lehrprogramm etc.

Kunde des klassischen Altertums sich bis in die Zeit der erneuerten weltlichen Bildung erhalten hat, und endlich fehlt es dem Mittelalter ebensowenig wie in den späten Tagen an kühnen Denkern, an grossartig begabten Geistern, welche hier zu wissenschaftlichem Studium angeleitet und befähigt wurden. Der auf Unkenntnis gegründete Hochmut moderner Bildung glaubt freilich mit dem einen Worte >>Scholastik<< über die Arbeit dieser Mönche hinweggehen zu können als über eine Summe nutzloser Versuche, die widerstrebenden Thatsachen und Gedanken einzuordnen in das herkömmliche System kirchlicher Dogmatik; allein schon die eine Beobachtung, dass in den wichtigsten Fragen schon damals dieselben Gegensätze aufeinander platzten, welche heute die Geister trennen, schon diese Beobachtung zeigt, dass die kirchlichen Fesseln das geistige Leben nicht erstarren liessen . . Dass die bedeutenden Männer nicht unterlagen, danken sie der Klosterschule, danken sie Cassiodor und den Benediktinern 1.«

[ocr errors]

1 Kaufmann, Rhetorenschulen, S. 85. 86.

« PreviousContinue »