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Doch verlangt die Gerechtigkeit die Anerkennung, dass Ausonius eben gab, was er zu geben vermochte und wozu ihn sein eigenes, durch die Schule jenes Jahrhunderts gebildetes Können befähigte. Darüber hinaus konnte sich sein Geist nicht schwingen. >>Die Herrschaft des schöpferischen Genius war gesunken, die Schule mit ihrem Formalismus suchte ihn zu ersetzen, bis eine neue Zeit neue Ideen wecken würde1.<<

Einstweilen hatte die Schule vollauf zu thun, um das Lehrprogramm abzuwickeln, an dessen Inhalt sie ihr Wirken lehnte, und um die ihr anvertraute zahlreiche Jugend zu bilden. Die gallische Schule zog nämlich in den Kreis ihrer Unterrichtsgegenstände auch Philosophie, Recht und Medizin herein, obschon das berühmte Dekret vom Jahre 376 dieser Disciplinen nicht namentlich gedenkt.

Von allen philosophischen Systemen zählte das platonische (dogma Platonicum) die meisten Anhänger 2. Es fehlte zwar auch den übrigen philosophischen Secten nicht an Jüngern, und besonders waren es die pythagoräische und epikuräische Lehre, letztere einem stark ausgeprägten Materialismus zuneigend, welche in den gallischen Schulen und auch in den höheren Gesellschaftsklassen Galliens Vertreter hatten. Ausserdem erfreuten sich auch noch andere philosophische Parteien ihres Daseins. Die gallischen Schriften des 4. und 5. Jahrhunderts führen Stellen und Namen von Philosophen an, welche man sonst nirgends mehr findet 3. Für die Verehrer der platonischen Richtung war der Platonismus ein Vorläufer des Christentums, zwischen welch' beiden man einen inneren Zusammenhang herzustellen trachtete und auch herstellte. Gelehrt wurde an den gallischen Schulen ebenso auch die aristotelische Philosophie und zwar die Moral- und Naturphilosophie, sowie die Kategorieen des Stagiriten 4.

praelabitur .... Ita me Diis probabilem praestem! ut ego tuum carmen libris Maronis adjungo «< (Die »Mosella<< des Ausonius war im 12. Jahrhunderte in Trier nicht mehr zu finden; wer sie lesen wollte, musste sich nach Bordeaux wenden. Hist. Trevir. bei Achery, Spicileg. II, p. 211.)

1 J. J. Rolly, Übersicht der vorzügl. Studien und Studienorte im Occident. Luzerner Schulprogr. S. 22.

2 Auson. Prof. XXVI.

3 Guizot, Cours d'hist. moderne, I. p. 222.

4 Sidon. Apoll. ep. IV, 1.

Der Mehrzahl der studierenden Jünglinge wurde die Philosophie die Brücke zum Fachstudium, sei es zur Jurisprudenz oder Medizin. So lange Gallien noch im lebendigen Verkehr mit Rom stand, wo die Docenten der zuletzt genannten Fächer Privilegien genossen, welche für die Provinzen nicht galten', mögen sich die meisten Studenten des Rechts nach der Weltstadt begeben haben, obgleich auch in ihrem Vaterlande Unterricht in dieser Disciplin erteilt wurde; doch scheint er in Gallien nicht allzu häufig gewesen zu sein, wenn man etwa Trier ausnimmt, in dessen Palastschule im 4. Jahrhundert über juristische Gegenstände dociert wurde. Nachdem im 5. Jahrhunderte zufolge der oftmaligen Barbareneinfälle die Residenz des gallischen Präfecten nach Arles verlegt worden, wird diese Stadt als hervorragender Sitz römischer Rechtsgelehrsamkeit genannt und die zeitgenössischen Schriftsteller rühmen die Tüchtigkeit der dortigen Anwälte und Rechtskundigen 3.

Was endlich das Studium der Medizin in Gallien angeht, so lassen sich bei Ermanglung bestimmter Nachrichten hierüber lediglich Vermutungen aufstellen, denen allerdings der höchste Grad der Wahrscheinlichkeit zur Seite geht. Eine eigentliche medizinische Fachschule besass weder Rom noch eine andere Stadt. Die Rhetorenschule wurde auch hier, wie für alle anderen, zur öffentlichen Wirksamkeit notwendigen Kenntnisse das Vorbild; die Litteratur ersetzte den theoretischen Vortrag und die Anleitung irgend eines Arztes, bei dem man in die Lehre ging, zeigte die praktische Handhabung.

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Gerade in Gallien wies der ärztliche Stand eine beträchtliche Zahl von Mitgliedern auf und bei mehr als einem von ihnen kam das Wort zur vollen Geltung: Gallenus dat opes. Dass so hervorragende Ärzte wie Julius Ausonius, welchen nur die edle Selbstlosigkeit und seine hingebende Menschenliebe hinderte, Reichtümer zu erwerben, und der berühmteste Praktiker seiner Zeit, der Burdigalenser Marcellus Empiricus, Archiater und Magister officiorum des Kaisers Theodosius des Grossen, Schüler gehabt haben, darf man annehmen, ohne in dieser Annahme nach positiven Aufzeichnungen der Alten urteilen zu müssen. Wie weit der theoretische Unter

1 L. 6 §. 12, II de excusat. Modestinus: Nóμwv de didáoxadoi év éπapxig διδάσκοντες ἄφεσιν οὐχ ἕξουσιν, ἐν Ῥώμῃ δὲ διδάσκοντες ἀφίενται.

2 Savigny, a. a. O. S. 395, 396.

3 Fauriel, Hist. de la Gaule meridionale I, p. 409,
4 Stein, Innere Verwaltung 1. TĮ. S. 344.

richt in der Heilkunde indes sich erstreckte, das dürften die sogenannten Formeln des Marcellus beleuchten. Dieser Arzt verfasste nämlich mit Benützung der von dem Empiriker Scribonius Largus, dem Leibarzte des Kaisers Claudius zusammengestellten Rezeptsammlung, »>Compositiones medicamentorum«, der medizinischen Arbeiten des älteren Plinius und einiger anderer Werke ein Verzeichnis zahlreicher Rezepte und physischer Hilfsmittel gegen alle Arten von Krankheitszufällen1. Das Buch lässt erkennen, dass der Aberglaube, welcher die meisten der dort angegebenen Heilformeln erfüllt, in Theorie und Praxis der damaligen ärztlichen Welt keine geringe Rolle spielte, ist aber teils dieser kulturhistorischen Seite. und teils auch deswegen wertvoll, weil es viele keltische Pflanzennamen wiedergibt 2, die gleich dem in den Rezepten enthaltenen Aberglauben auf druidische Überlieferung zurückdeuten 3.

1 Sprengel, Gesch. der Medizin II, S. 178. 179.

2 Principes medicinae, ed. per J. Cornarium II. p. 254. Basil 1536. Abhandlungen der Berliner Akademie 1847 (Jak. Grimm, Über Marcellus Burdigalensis) und ebendas. 1849 (Über die Marcellischen Formeln). Vgl. Mary-Lafon I, p. 325.

3 Hist. litt. II, p. 52.

Viertes Kapitel.

Die gallischen Rhetorenschulen im 5. Jahrhundert und das Christentum. Sidonius Apollinaris.

Das 5. Jahrhundert zeigt Gallien, obschon mit dem Gepräge der germanischen Barbarenherrschaft auf der Stirne, und obgleich der Niedergang der Wissenschaften bereits seinen langen Schatten vorauswirft, im Wesentlichen als dieselbe Pflegerin des Schullebens wie das 4. Jahrhundert. Noch immer sind die Schulen, deren es dort in allen bedeutenden Städten gab, die einzigen, naturgemässen und besten Bildungsstätten und aus ihnen geht eine beträchtliche Anzahl gelehrter, auf allen Wissensgebieten ausgezeichneter Männer hervor. Gerade dort, wohin die Germanenstämme den Centralpunkt ihrer Macht verlegt, bestehen noch um die Mitte des 5. Jahrhunderts öffentliche Schulen, die gewöhnlich stark besucht waren und wo man mit Erfolg die schönen Wissenschaften, Poesie und Philosophie lehrte, wo man Aristoteles, Vergil, Cicero, Plautus, Naevius, Cato, Varro, Gracchus, Chrysipp, Fronto las. So zu Lyon und Vienne im Lande der Burgunder, zu Bordeaux und Arles bei den Westgothen, zu Clermont in der Auvergne und anderen Orten 1. Allerdings sind die alten Lehrer vom Schauplatze ihrer Thätigkeit abgetreten, neue haben deren Stelle eingenommen, doch Lehrmethode und Lehrgegenstände sind von keinem Wechsel berührt worden. Man weiss zwar nichts Genaues über letztere Punkte, da sich für dieses Jahrhundert kein Ausonius fand, der, wie der alte Rhetor von Burdigala, Personen und Sachen der Schulwelt zum Gegenstande seiner meldenden Feder erkoren hätte; allein man wird nicht fehl gehen, wenn man sagt, dass das 5. Jahrhundert so ziemlich auf den Schultern seines Vorgängers steht 2. Die Richtigkeit dieser Anschauung wird durch näheres Eingehen auf den Gegenstand bewiesen.

1 Hist. litt. II, 1. p. 39. 2 Fauriel, 1. c. I. p. 417.

Weitaus das Meiste, was uns über die gallischen Rhetorenschulen dieser Zeit bekannt geworden, verdanken wir einem Manne, dessen geistiger Bildungsgang zwar noch ganz unter dem Einflusse heidnischer Schulwissenschaft sich vollzogen hat, der sich jedoch in seiner Gotteserkenntnis und seinem religiösen Leben nicht bloss zu den geläuterten Prinzipien des Christentums durchgerungen, sondern unter den Vertretern desselben in Gallien einen vorzüglichen Rang einnimmt. Es is dies Cajus Sollius Apollinaris Sidonius, Bischof von Clermont, den die Kirche unter die Schar ihrer Heiligen aufgenommen hat.

Die eminente Bedeutung, welche diesem Manne sowohl als hochgebildetem, kirchlichen Würdenträger sowie auch als dem geistvollsten Schriftsteller seines Jahrhunderts zukommt2, verlangt natürlich eine Schilderung seiner äusseren Lebensverhältnisse.

Apollinaris Sidonius wurde ungefähr am 5. November 430 zu Lugdunum als der Sprosse einer altvornehmen, gallischen Familie geboren 3. Sein Vater hatte unter Honorius die Stelle eines Tribuns und unter Valentinian III. die Präfektur von Gallien, sein Grossvater dieselbe Würde unter dem Tyrannen Constantin bekleidet. Seine Mutter, deren Name unbekannt, stammte aus der berühmtesten Familie der Auvergne, der Familie des Kaisers Avitus. Sein Urgrossvater hatte ebenfalls hohe Staatsämter innegehabt, allein die edelste Auszeichnung war sein Übertritt zum Christentume 4.

Die erste Schulbildung empfing der. Knabe nach herrschendem Gebrauche vom Elementarlehrer, worauf er dann in die grammatikalische Palästra übertrat 5. Zu seinen Lehrern gehörten die besten Geister jener Zeit. Er empfing Unterricht in den schönen Wissen

1 Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen I. S. 75. (4. Aufl.) 2 Loebell, Gregor von Tours und seine Zeit. S. 383.

3 Sid. Apoll. VIII, 6. Carm. XX. Baronius, Annal. VIII. p. 313 A. Germain, Essai litér. et hist. sur Apoll. Sid. Monpell. 1840. Fertig, C. Sollius Apoll. Sidonius und seine Zeit. 3 Schulprogr. (Würzburg 1845, 1846. Passau 1848). J. Fr. Grégoire-Collombet, Oeuvres de C. Soll. Apoll. Sidon. Lyon 1836, 3 Bd. Apoll. Sid. opera ed. Savaro, Paris 1609. Migne, Patrol. t. LVIII. G. Kaufmann, Die Werke des Apoll. Sidonius als eine Quelle für die Geschichte seiner Zeit, Götting. Dissertation 1864. u. in Götting. Gelehrt. Anzeigen 1868. S. 1001 squ. C. Chaix, St. Sidoine Apoll. et son siècle, 2. vols. Clermont Ferr. 1867-68. Chatelain, Étude sur Sid. Paris 1875.

4 Sid. Apoll. Ep. lib. I, 3, III, 12. V, 9.

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5 Ep. V. 21: mihi quoque a parvo cura musarum. Carm. XXIII, 205.

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