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als Selbstgut befördern, oder ob sie sich immer noch fragen: wozu?

Nach Herrn Selle's richtiger Bemerkung ist die Erweiterung der Thätigkeit das lehte Ziel der menschlichen Glückseligkeit. Hierzu wird unstreitig Freiheit und Selbstbestimmung erfordert; und also findet in Absicht auf das höchste Gut offenbar kein Zwang statt. Ich kann Niemand zwingen, zu hoffen, zu lieben, großmüthig, enthaltsam zu seyn; und also ist in Absicht auf dies jenigen Güter, die das höchste Gut ausmachen, der Zwang phyfisch unmöglich. In Absicht der Mittel hingegen, insoweit sie bloß als Mittel anzusehen sind, läßt sich gar wohl der Zwang physisch denken. Der Arzt kann einen Kranken, dem das kalte Bad zuträglich ist, mit Gewalt ins Wasser stürzen. Man kann einen Menschen einsperren, um ihn von Ausschweifungen abzuhalten; man kann ihn zu Leibesübungen nöthigen, um ihm athletische Stärke beizubringen. Aber insoweit die nüglichen Dinge auch an und für sich begehrlich seyn können, läßt sich auch hier kein physischer 3wang anbringen. Freiwillige Leibesübungen, selbstgewählte Mäßigkeit sind zugleich nüßlich und Selbstgut; nüßlich in Absicht auf die Folgen, und Selbstgut als eine zweckmåßige Äußerung der Freiheit.

Das Recht meines Nebenmenschen also, mich zu meinem Besten zu zwingen, kann nur in Absicht auf die Mittel statt finden; und auch hier führt es den Nachtheil mit sich, daß durch den Zwang die Mittel bloß secundum quid, nicht an und für sich selbst begehrliche Dinge werden. Der Sklave kann aus Furcht höchstens nur nußenbringende Geschäfte verrichten; der freie Mensch thut aber daffelbe; und was er verrichtet, ist nicht nur nüßlich, sondern auch gut und selbstbegehrlich.

Daß dieses Recht des Weisen, Andere zu leiten, bloß ein innerliches Recht, und die Verpflichtung zum Gehorsam im Stande der Natur eine bloß innerliche Verpflichtung sei, ist von meinem Vorgänger bereits hinlänglich dargethan worden. Die Frage ist: auf welche Weise kann diese innere Pflicht, dieses innere Recht in äußeres übergehn? auf wie vielerlei Art können diese unvollkommenen Pflichten und Rechte in vollkommene vers wandelt werden? wie entstehen auch hier aus. Gewissenspflichten Zwangspflichten? aus Recht der Billigkeit Recht der äußerlichen Gewalt?

Nach meiner Theorie gründen sich die unvollkommenen Rechte

und Pflichten auf die Möglichkeit der Collisionsfälle, deren Entscheidung bloß dem Pflichttragenden zusteht. Sie gehen also in vollkommene Pflichten über: 1) so oft die Collisionsfälle moralisch unmöglich find; oder 2) wenn der Pflichttragende durch einen ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrag auf sein Ent scheidungsrecht Verzicht gethan; oder 3) wenn er augenscheinlich in der Verfassung ist, von seinem Entscheidungsrechte keinen vernünftigen Gebrauch machen zu können. Ich kann Jemanden, der zum Selbstmorde entschlossen ist, mit Gewalt davon abhalten, weil sich kein Collisionsfall denken läßt, in welchem der Selbstmord erlaubt wäre. Ich darf einen Freund, der in der Heftigkeit einer Leidenschaft etwas gewaltsames beginnt, davon allenfalls mit Gewalt abhalten; und bin sogar sittlich verpflichtet es zu thun, wenn sein Unvermögen, vernünftig zu handlen über allen Zweifel weg ist. Gefeßt, ein Staat ließe sich die Gründe jenes italianischen Schriftstellers verführen, die Menschen für Thiere zu halten, die bestimmt sind auf allen Vieren zu gehen, und wollte diese Art zu gehen durch öffentliche Gefeße einführen; oder geseht, ein Volk ließe sich einfallen, die Köpfe der neugebornen Kinder, wie die Caraiben thun sollen, zwischen Brettern einzuschrauben; so glaube ich, sei ein jeder benachbarte Staat vollkommen berechtigt, dieses thörichte Beginnen durch Gewalt zu verhindern. Denn hier lassen sich keine Collisionsfälle denken, deren Entscheidung nicht offenbar am Tage liegt und jedem vernünftigen Wesen nicht mit gleichem Rechte zusteht.

Hierauf beruht auch die Autorität der våterlichen Gewalt. Es ist offenbar kein Collisionsfall moralisch möglich, dessen Ents scheidung den Kindern allein zustehen sollte. Die Verpflichtung zum Gehorsam, die an und für sich bloß innerlich und Gewissenspflicht ist, wird bei ihnen wegen der Schwäche ihrer Vernunft Zwangspflicht; und das Recht der Ältern, sie ihrer Führung zu unterwerfen, geht in ein äußeres vollkommnes Recht über. Indessen ist, wie wir gesehn, jeder Zwang an und für sich ein übel. Wenn er auch zur Glückseligkeit führt, so werden doch dadurch die Mittel zur Glückseligkeit, welche Selbstgüter seyn kön nen, in bloße Mittel, das Gute, Nühliche in bloß nühliches verwandelt, und dadurch schon wahre Glückseligkeit vermindert. Also von der einen Seite ist das Übel gewiß; von der andern Seite hingegen das Übel, welches von dem Mißbrauch der Freiheit zu besorgen, bloß vermuthlich. Je größer die Wahrscheinlichkeit

des Mißbrauchs, und je größer das übel, welches daraus ent= stehen kann, desto größer die Gefahr. Diese Gefahr muß also mit dem Übel des Zwanges verglichen werden. Je mehr die Gefahr das Übel des Zwangs übersteigt, desto nothwendiger wird der Zwang, desto unumschränkter die väterliche Gewalt. Es wird also bei der Erziehung zur Regel dienen können: alle freiwilligen Handlungen, bei welchen der Zwang ein größres Übel seyn würde, als die Gefahr, die von dem Mißbrauch der Freiheit zu besorgen ist, müssen der Willkühr der Kinder überlassen werden; und die Befehle nur alsdann eintreten, wo das Elend von beiden Seiten wenigstens gleich ist. Gångelt eure Kinder, so lange die Ge= fahr zu fallen, d. i. die Wahrscheinlichkeit zu straucheln, verdop= pelt mit dem übel, das sie sich dadurch zuziehen würden, größer ist, als der Zwang des Gångelwagens; überlaßt sie ihren eigenen Kräften, wo es ohne augenscheinliche Gefahr geschehen kann.

Mit gehöriger Veränderung kann dieselbe Betrachtung auch auf die Regierung der Völker angewandt werden. Auch hier kann der Fall eintreffen, daß die Gefahr des Mißbrauchs größer ist, als das Übel des Zwanges, und also die Verpflichtung zum Gehorsam dringender wäre. Auf die Frage: welche Regierungsform vorzuziehen sei, die monarchische oder die republikanische? wird die Antwort gelobt, die Jemand gegeben: die monarchische, wenn der Regent weise ist; wo nicht, die republikanische. Ich würde geantwortet haben: wenn das Volk weise ist, die republikanische; wo nicht, die monarchische. Das Recht, sich selbst zu regieren, bleibt der ganzen Gesellschaft und jedem Mitgliede vorbehalten, so lange die Gefahr des Mißbrauchs nicht augenscheinlich größer ist, als das Übel, welches der Zwangsgehorsam mit sich führt. Sobald dieser Zeitpunkt eintrifft, so befindet sich die Nation in der Nothwendigkeit, sich einen Oberherrn zu sehen. Das Recht, zu bestimmen, ob diese Nothwendigkeit wirklich vorhanden, und nach welchen Gesehen der Tüchtigste gewählt werden soll, kömmt abermals innerlich bloß den fähigsten Mitgliedern des Staats, äußerlich aber allen Staatsgliedern mit gleichem Rechte zu. Wenn aber die Gelegenheit dringend, die Ungewißheit mißlich, und der Zwist der Gesellschaft gefährlich ist; so kann das Wahlrecht, so wie die Wahlgesehe, durch ausdrückliche oder stillschweigende Verträge, ein für allemal, auf gewisse Personen festgesett werden; und jedes Mitglied ist auch äußerlich verbunden, diejenige Person für die tüchtigste zu halten, welche nach den

Gefeßen des Staats dafür erkannt worden. Kann aber weder eine ausdrückliche, noch eine stillschweigende Einstimmung erhalten werden, und die Gefahr der Freiheit ist dringend und droht dem Staat Zerrüttung; so geht die innere Verpflichtung, sich der Führung Anderer zu überlassen, in eine äußere Zwangspflicht über; so tritt der Fall ein, in welchem der Grundsah des Hrn. Selle volle Gültigkeit hat; und einem jeden Staatsgliede, das sich für den Tüchtigsten hält, ist erlaubt, sich der Gewalt zu be dienen und die Mitbürger zum Gehorsam zu zwingen. Dem Unzufriedenen muß immer noch unverwehrt bleiben, den Staat zu verlassen; und eben dadurch wird sein Dableiben mit Recht als eine stillschweigende Einwilligung angesehn. Überhaupt muß der Zwang nie weiter gehn, als die Gefahr des Mißbrauchs; und selbst in einer weisen Monarchie müssen die Geseze nie weiter Ziel und Maaß sehen, als wo der Mißbrauch auch mehr Gefahr hat wie der Zwang; und jede Handlung insbesondere, bei welcher dieser Fall nicht eintrifft, der Freiheit der Bürger überlassen werden. Die Marime ist richtig: je mehr Zwangsgefeße, desto größeres Elend.

Dieselbe Regel findet auch statt, wenn von Veränderung der Regierungsform die Rede ist. Selten bleibt das Volk lange in der Verfassung, daß ihm die Selbstregierung ohne Gefahr überlassen werden könnte. So lange es die Freiheit, sich zu regieren, nicht bloß als Mittel, sondern als Endzweck betrachtet; so lange jedes Mitglied den Gebrauch seiner Kräfte zur öffentlichen Regierung als einen Theil seiner Selbstglückseligkeit ansieht; wird das Elend des Zwanges sehr oft größer seyn, als die Gefahr des Mißbrauchs; und in diesem Falle wäre es offenbare Tyrannei, wenn eine oder mehrere Personen im Staate sich die öffentliche Gewalt anmaßten. Sobald aber das Volk sich der Freiheit bloß als Mittel zu bedienen anfängt, sobald viele Personen im Staate den Antheil an der öffentlichen Regierung bloß als nüßlich ansehen und öfters zu fremden eigennügigen Absichten mißbrauchen; so nimmt das übel, welches aus dem Zwang entspringt, in eben dem Maaße ab, in welchem die Gefahr des Mißbrauchs von der andern Seite zunimmt. Jenes nimmt ab, weil der Gebrauch der Freiheit dem Sklaven keine Glückseligkeit gewährt; und die Gefahr des Mißbrauchs nimmt zu, je öfter Eigennuß an die Stelle des Gemeinnuhens treten kann. Das Volk, welches sich in dieser Verfassung befindet,

reift zur aristokratischen oder monarchischen Regierung; zu jener, so oft noch beim edlern Theil des Volks die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten Selbstglückseligkeit ist. Sobald sie auch bei diesem bloß Mittel geworden ist; sobald sie in der Führung der öffentlichen Angelegenheiten selbst nicht mehr ihre Glückseligkeit finden, und bloß auf den Nußen sehen, den sie davon haben; so ist keine andere Hülfe, als Eigennuß mit dem öffentlichen Nugen auf das festeste zu verbinden; d. h. den Staat einem uneingeschränkten Einzelherrn zu unterwerfen, der das Ganze als sein Eigenthum ansieht und also, wenn er sich auf seinen Nußen versteht, bloß das gemeine Beste nühlich finden kann. Von dieser Seite betrachtet, hat man schon öfters das Betragen des Julius Cåsar gerechtfertigt, und die Anmaßung der Einzelherrschaft, die ihm schuld gegeben worden, so ungerecht nicht gefunden, als Brutus und seine Anhänger fie ausgegeben. Das römische Volk, sagt man, war in den da maligen Zeiten so ausgeartet, daß die Gefahr des Mißbrauchs offenbar größer war, als das Elend des Zwanges; vorausgeseßt, daß Casar selbst nicht an diesem Verderbnisse des Volks großentheils schuld gewesen, und den Zustand vorsäglich hervorbringen. geholfen, den er sich so sehr hat zu Nuge machen wollen.

Indessen wird die Nothwendigkeit der Veränderung in einem freien Staat öfter vorkommen, als in despotischen Regierungen. Unter einem eigenmächtigen Herrn bildet sich das Volk selten zur Freiheit. Es verlernt nicht nur den Gebrauch seiner politischen Kräfte, und wird gleichsam unfähig, auf eigenen Füßen zu stehen; sondern es verkennt auch durch die Länge der Zeit den Werth derselben. Wenn es Freiheit als nüßlich wünscht, wünscht es dieselbe nur als Mittel zu andern Bedürfnissen; und scheuet im Grunde mehr das Ungemach der Selbstregierung, als das Elend des Gehorsams. Ist der Despotismus auf's höchste gestiegen und die Tyrannei macht eine Veränderung nöthig, so trifft die Veränderung nur die Person, nicht die Verfassung. Der Despot wird, in der Empórung, auf die Seite geschafft, und der Despotismus bleibt. Je freier aber der Staat ist, desto inniger sind die regierenden Personen mit der Verfassung_ver= knüpft. Eine Veränderung der Personen verändert zugleich die Form. Wenn in einer Volksregierung das politische Verderbniß so hoch gestiegen, daß eine Veränderung nothwendig wird, so können die Regenten nicht abgesett oder entfernt werden, ohne

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