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II

„Wenn ich Kinder hätte und vermöchts," sagt er in der bewundernswürdigen, mit herzlicher Seelsorgerliebe“ verfaßten Schrift an die Rathsherrn aller Städte Deutschlands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (1524), „sie müßten mir nicht allein die Sprachen und Historien hören, sondern auch singen und die Musica mit der ganzen Mathematica lernen." Was die folgenden Jahrhunderte Großes und Schönes erschufen, konnte den Schulen nicht fern bleiben. Wir erhielten eine reiche Literatur; durch Bibel und klassisches Alterthum genährt, entsprang aus Klopstock's Seele die deutsche Dichtung; durch ihn sing die deutsche Muse an eine würdigere Sprache zu reden; von ihrer Harfe tönten wieder tiefe, reiche und seelenvolle Accorde; von Shakspere begeistert, in den Strom hellenischer Schönheit hinabgetaucht, schufen Göthe und Schiller jene Werke, die den größten und vollendetsten aller Zeiten ebenbürtig zur Seite stehen. Die Romantik, dieses glühende Abendroth deutscher Poesie, richtete unseren Blick auf das Mittelalter; Siegfried's Edelmuth, Hagen's Furchtbarkeit, die Rächerin Chriemhilde, Parzival's Gemüthskämpfe und Tiefe, Walthers ächt deutsche Lieder redeten wieder zu unseren Seelen, eine großartige Wissenschaft deutscher Sprache, Art und Sitte erstand, und das Heldenblut, in den Freiheitskriegen für das Vaterland geflossen, gab uns die Besinnung, daß wir ein Volk sind. Die Geschichtschreibung auf dem Gebiete des nationalen Lebens überhaupt, der Literatur insbesondere mit fruchtbarem Erfolge thätig, hat uns unser Volk tiefer und und umfangreicher zur Anschauung gebracht. An diesen herrlichen Erscheinungen durfte die höhere Schule der neueren Zeit nicht kalt und gleichgültig vorübergehen; und während die Reformatoren die deutsche Sprache als Unterrichtsgegenstand noch nicht kannten, während in Troßendorf's Schule deutsch zu reden den Schülern untersagt war, hat in der Neuzeit deutsche Sprache und Literatur eine berechtigte und wichtige Stellung unter den Unterrichtsgegenständen der höheren Schule erhalten. Die Methode ist noch nicht zu durchgreifender Sicherheit gelangt;') aber der Gegenstand ist unabweisbar; mit maßvollem Sinne behandelt wird er der Jugend der Gymnasien frommen, ihr Gemüth bereichern, ihren patriotischen Sinn stärken. So hat der Schule der früheren Zeiten gegenüber das Gymnasium seine Bildungsmittel erweitert, eine größere Mannigfaltigkeit derselben sich angeeignet; denn auch eine Anschauung von der Entwickelungsgeschichte der Menschheit will es seinen Zöglingen zuführen, mit der Sprache neuerer Völker sie bekannt machen, eine Kenntniß der Mathematik und Natur will es denselben aneignen. Die Gefahren der Kraftzersplitterung liegen nahe; das Gefeß aller gesunden Entwickelung ist, daß im kleinsten Puncte still und unerschlafft die höchste Kraft gesammelt werde"; daß die Gefahren vermieden werden, daß in der Mannigfaltigkeit Einheit und Einfachheit bewahrt bleibe, muß das heutige Gymnasium seines Ursprungs im Reformationszeitalter sich erinnern. Bibel und klassisches Alter

1) Unter den vielen Schriften über diesen Gegenstand weise ich auf C. Heiland's trefflichen Artikel deutsche Sprache in höheren Schulen" in Schmid's Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens hin, 1 p. 908-930.

thum müssen die starken Pfeiler bleiben, von denen der Bau der Bildung getragen wird; und je mehr die höhere Schule sich bewußt ist, eine deutsche zu sein, muß sie die beiden charakteristischen Züge der Nation als schönes Vermächtniß pflegen und mit dem treuen Sinne der Vestalin als reine Flamme hüten und bewahren. Immer hatten Deutschlands edelste Geister einen tiefen und kraftvollen Zug zur Bibel und zum klassischen Alterthume; die gothische Bibelübersehung des Ulphilas, aus tiefchristlicher Begeisterung entsprungen, steht nicht minder groß da als die Bibelüberseßung Luther's; Messiaden haben Otfried und der Verfasser des Heliand lange vor Klopstock verfaßt, der, wenn Milton das verlorne Paradies zur Darstellung brachte, der „sündigen Menschheit Erlösung“ besang, und das deutsche Kirchenlied wie hat es seine tiefsten Wurzeln in David's Psalmen und in dem Evangelium! Der Zug zum klassischen Alterthume ist ebenfalls ein tiefer Charakterzug aller ächt deutschen Bildung. Auch das Mittelalter, wie wesentlich von dem Alterthume verschieden, giebt davon Zeugniß; die nationale Sage, die Thierfage, so ursprünglich deutsche Erscheinungen, sie haben auch in lateinischen Versen ihre Form gefunden; in dem Jahrhundert Ottos des Großen steht Brun da, wie Melanchthon im sechszehnten; in beiden tiese Frömmigkeit, in beiden eine lebendige Liebe zu den Schriftstellern des klassischen Alterthums. Klopstock dichtete in antiken Rhythmen; von der Mäßigung, welche den Griechen die Gefeße der Schönheit vorschrieb, in sittlicher Beziehung vor Selbstüberhebung und Uebermuth warnte, von der Stimme der Sophrosyne, welche aus goldnen Sprüchen der antiken Dichter und Weisen tönt, wurde Göthe's und Schiller's Geist tief berührt und aus dem prometheischen Sturme und Drange zum maßvollen Ideal gerufen. Man hat es beklagt, daß Göthe die ächt deutsche Bahn, die er im Göz von Berlichingen betreten, in der Iphigenie verlassen habe; aber nicht Nachahmung und Eigensinn führte ihn zu den Alten, sondern ein nationaler Zug, jene Verwandtschaft des deutschen Geistes mit dem griechischen, welche Niebuhr bestimmte, Griechenland das Deutschland des Alterthums zu nennen.

Mögen diese Charakterzüge des deutschen Volkes, diese Liebe zur Bibel und zum klassischen Alterthume immer in den Schulen ihre pflegende Stätte haben; möge das Parchimer Gymnasium, wie es eintritt in ein neues Jahrhundert, dieser Charakterzüge immer fruchtbar eingedenk sein. Möge Gottes Segen auf dieser Anstalt ruhen und die hohen Behörden derselben ferner mit Kraft rüsten; möge der Geist der Treue die Lehrer derselben beseelen, Zucht, Gehorsam, Pietät und ernstes Streben unter den Schülern walten; mögen die Eltern derselben die Arbeit der Schule mit christlicher Gesinnung fördern. Möge Seine Königliche Hoheit der Großherzog, wie Er der Anstalt Seines Namens immer reiche, mit tiefster Dankbarkeit erkannte Förderung gewährte, Sein schützendes und ermunterndes Auge gnädigst auf dieselbe auch ferner richten! Mit diesen Wünschen widmet der Verfasser dem Großherzoglichen Friedrich-Franz-Gymnasium diese Schrift.

Parchim, zum 20. October 1864.

Dr. C. C. Hense.

Vorbemerkungen.

G. Bernhardy, der große Philolog, den ich mit Verehrung und Dankbarkeit nenne, sagt in dem Grundriß der griechischen Literatur 1 p. 6 (3. Bearbeitung) von der plastischen Form bei den Griechen: sie macht den in Freiheit und Schönheit vollzogenen Vertrag des Geistes mit der Natur sinnlich klar und faßbar, und verkörpert ihn in individuellen Größen. In keiner Natur hat die Plastik tiefere Wurzel geschlagen oder einen gleich weiten Spielraum erworben: nicht nur ist sie der Ruhm und Lebenspuls des griechischen Epos, wodurch es in seiner Art einzig geworden, sondern offenbart sich auch im allgemeinen Triebe zur Mythenbildung, in der konkreten Gestalt des Bildes und Gleichnisses, vorzüglich aber durchdrang sie jedes Feld der bildenden Kunst.“ Aus diesem plastischen Sinne der Griechen stammt daher auch auf dem Gebiete der po etischen Sprache ihre große Neignng zur Personification, die sie vor anderen Völkern des Alterthums zu reicher Mannigfaltigkeit und zu hoher Vollendung ausgebildet haben. Die Personification gehört indessen der menschlichen Phantasie und der Poesie überhaupt an; hat die lettere den Beruf, das Schöne zur Anschauung zu bringen und ist das poetische Ideal wesentlich personbildend, so fällt mit diesem Berufe der Poesie die besondere Thätigkeit der Personification zusammen. „Alle Mittel der Veranschaulichung“, sagt ein berühmter Aesthetiker, „drängen als beseelend wesentlich zu Personification hin.“ Ihr Reichthum erweist sich in der schöpferischen Kraft, daß sie sowohl verkörpert als befeelt; den Gegenständen, wie sehr sie sich durch Formlosigkeit, wie Luft, Wind und Wasser, der Schranke der Gestalt entziehen, giebt sie das Maaß anschaubarer Formen; die Verhältnisse des Geistes, ihrem Wesen nach der sinnlichen Anschauung entzogen, treten durch fie, die ächte Dichterin, in die Erscheinung und werden sinnlich anschaubare Gestalten; leblose Gegenstände, von Natur dem empfindenden, denkenden Leben entfremdet, werden durch sie zum Gefühl und zur Empfindung erweckt und erhalten eine Seele und Gesinnung. Auf den Menschen und sein gesammtes Wesen, auf sein Verhältniß zu den Offenbarungen Gottes, auf seine Beziehungen zur Natur ist die Darstellung der Kunst und Poesie gerichtet; in den Kreis des Menschen zieht sie alles hinein; er allein unter den Wesen dieser Erde ist Person; die Poesie mit schöner Freigebigkeit theilt daher das menschlich persönliche Leben überall hin aus. Die Schönheit der Personification besteht nicht bloß in der lebhaften Veranschaulichung, in der tiefen Beseelung überhaupt; als

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menschlich gestaltete Wesen begegnen uns durch sie die leblosen Gegenstände, cine mensch liche Empfindung und Gestalt bringen uns durch sie die Begriffe und Ideen entgegen, die an sich nicht fühlen und nicht weinen; in einem ächten Drama der großen Griechen, Shatsperes, Göthes, Schillers treten nicht bloß Menschen mit ihren Leidenschaften, Gesinnungen und Handlungen auf, sondern durch die Personification wandeln für das Auge der Phantasie noch viele andere Gestalten in denselben und vermehren den Reichthum und die Fülle des persönlichen Lebens.

Der Ursprung der Personification ist demnach in der Phantasie zu suchen. Sie ist schon mit der Sprache selbst gegeben, indem dieselbe vermöge der Einbildungskraft den Dingen ein bestimmtes Geschlecht giebt (vgl. Welder, Griechische Götterlehre 1 p. 72 und J. Grimm, deutsche Grammatik 3 p. 344 flg.). Bei den Griechen ist sie mit der Götter und Mythen bildenden Thätigkeit auf das Innigste verbunden. Bei ihnen werden die Erscheinungen der Natur zu Personen der religiösen Anschauung; aber dieser religiös personificirende Trieb erschuf nicht allein die Naturgötter, wie die Eos, den Aeolus, die Flußgötter, die Nymphen und alle die Gestalten, welche als Gottheiten ein Naturgebiet beherrschen oder eine Naturerscheinung verkörpern; unter dem Einflusse, durch die Erscheinung der Götter gewinnt die Natur überhaupt persönliches Leben und individuelle Empfindung. Wenn Poseidon bei Homer über die Fluth fährt, springen die Ungeheuer um ihn empor aus den Tiefen, und erkennen den Herrscher; frohlockend trennt fich das Meer. In einem Hymnus des Alcäus auf Apollo fährt der Gott auf einem Schwanengespann von den Hyperboreern nach Delphi; „die Cicaden, die Schwalben, die Nachtigallen singen ihm zu Ehren, der Kastalische Quell floß leuchtender, der Kephifsos hob seine Wellen höher." In einem Chore der Antigone des Sophokles wird Dionysos angerufen als Chorführer der funkensprühenden Sterne; sie nehmen Theil an dem nächtlichen Reigen, den der Gott anführt; in der Gegenwart des Dionysos, heißt es im Euripideischen Chorliede, tanzt der Aether mit dem Sternenantlig, tanzt der Mond, tanzt die Erde. Als Latona den Apollo gebar, erzählt der Homerische Hymnus und Theognis, da lächelte die Erde, die Insel Delos wurde weit und breit mit ambrosischem Duft erfüllt, es freute sich die tiefe Flut des Meeres. Beim Nahen des Gottes muß die Natur schweigen. Stellen bei Euripides und Theokrit, des Dionysius Hymnus auf Apollo stellen dieses großartig dar.')

Von Schönheit und Kunst, von Gesang und Poesie wurden die Griechen so tief ergriffen, daß nach der Darstellung der Dichter die Wildheit vor dem Zauber des Liedes und der Töne verstummte und die leblose Natur die Wirkungen derselben empfand. Der herrliche Eingang von Pindars erster pythischer Ode stellt die Macht dar, welche

') Vgl. die Stellen: Hom. II. 13, 27; Alcaeus bei Bergk, poetae lyrici Gr. (1. A.) p. 569 und Lehrs, populäre Auffäße aus dem Alterthume p. 112, 113; Soph. Ant. 1145 und Schneidew, Eur. Jon. 1089; Hom. Il. 14, 347, hymn. in Apoll 118, Theogn. 8; Eur. Bacch. 1077; Dionys. hymn. in Apoll. 6 (Jacobs Anth. 1 p. 230), Theocr. 2, 38.

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