Page images
PDF
EPUB

ulicher als einer überlegten Handlung. Das wahre tragische chrecken überfållt uns nur alsdann, wenn wir das Unglück her gefürchtet haben, wenn uns die Gefahr einigermaßen genbet hat, wir aber nicht geglaubt, daß sie so nahe wåre; leicht hat sich der Dichter gescheuet, Kain einen überlegten dermord zuzuschreiben. Er scheint überhaupt nicht kühn ge= .:*・gewesen zu seyn, Kain so lasterhaft zu machen, als er ver=

e der Anlage håtte werden sollen. Dadurch aber hat er den → Abels nicht genug mit der Handlung verbunden; und es beinahe so viel, als wenn er seinen Held håtte unversehens en Berge herunterstürzen lassen.

Die Hauptfiction in diesem Gedichte ist also, ohne Umweif zu reden, schlecht. Desto schöner hingegen sind die NebenStichtungen, mit welchen es ausgeziert ist, und die wir fast alle

unserm Auszuge angeführt haben. Der Leser wird bemerkt ben, daß sie durchgehends von der Natur der Schäfergedichte 1, außer der leßten Scene, da Kain seine Hütte besucht, selche wahrhaftig tragisch ist. In allen übrigen Fictionen sieht an ein Genie, das sich mehr in der angenehmen und sanften, a. in der großen und schrecklichen Natur gefällt. Er malt alleit lieber ein lachendes Gefilde als eine Wüste, lieber den Sommr als den Winter, und Eden lieber als die Hölle. Seine erhafte Tugend ist etwas weichlich, und seine stärksten Leidenaften sind Zärtlichkeit und Mitleiden. Kurz! Geßner hat den men, aber nicht die Art seiner Gedichte verändert; er ist in see Epopee immer noch der unnachahmliche Schäferdichter.

Unter den Charakteren hat uns Mehala am meisten geom. Eine leidende Tugend, die standhaft genug ist, ihr Elend artragen, ist das angenehmste Schauspiel in der ganzen Na

Nur da verläßt sie ihren Charakter etwas, wo sie Kain urch ihr Jammern in der Ruhe stört. Adam und Abel sind

wie Eva und Thirza, ähnliche Charaktere, die nur dem 2ter nach unterschieden sind. Der Charakter des Kain könnte 3felhaft scheinen. In unsern Tagen würde Kain ein ehrlicher, Graber Mensch seyn, den es verdrießt, daß er allein für das Fous forgen und Brod schaffen muß, da indessen sein Bruder freramen Beschäftigungen obliegt, Freudenthrånen weint, und chelt. Dieses ist aber dem Dichter nicht zur Last zu legen. Wir müssen uns in die Zeiten versehen, von welchen er dichtet. Die Menschen hatten damals ihre Bedürfnisse noch nicht IV, 1.

21

vervielfältigt. Die Natur reichte ihnen wenig, aber sie brauchten noch weniger; und also konnte der fleißigste Mensch seine Zeit zwischen Arbeit und Muße theilen. Es war also Neid, Unzufriedenheit, und Rauhigkeit des Gemüths von Seiten Kains, wenn er seinem Bruder diese Muße nicht gönnte. Zudem kann der Mensch im Stande der Natur nicht die Laster selbst haben, die jezt den Erdboden verwüsten; denn ihm fehlten die Mittel, folche auszuüben. Ehre und Reichthum, die großen Verführer, waren damals noch gar keine Begriffe. Der einzige Weg für den Dichter, einen lasterhaften Charakter zu schildern, war also, ihm den Saamen zu allen Lastern in das Gemüth zu legen; und dieses sind Neid und Unzufriedenheit. Wer in diesen forglosen Zeiten unzufrieden war, der hatte die völlige Anlage, lasterhaft zu seyn. Wir würden also an dem Charakter des Kain nichts auszusehen finden, und ihn vielmehr für sehr wohl ge= wählt halten, wenn der Dichter nur da, als die Leidenschaft in wirkliche Flammen geråth, der Bosheit des Kain den leßten Druck hätte geben, und ihn einen überlegten Brudermord hätte wollen begehen lassen. Die Reue håtte deswegen immer noch darauf folgen können; denn sobald die Rache vollzogen ist, so verschwindet gewöhnlichermaßen der Haß, und macht dem Mitleiden und der Reue Plak. Der Charakter des Kain aber wåre dadurch bestimmter geworden; denn jeßt wissen wir beinahe nicht, ob dem Kain nicht zu viel geschieht, so ein schielendes, ich weiß nicht was, ist aus dem Charakter geworden.

[ocr errors]

In diesem Stücke scheinen sich die Herren Schweizer insgesammt von einer falschen Kritik verführen zu lassen. machen sich falsche Begriffe von der Moralität der Charaktere in Epopeen, und glauben, fie müßten alle moralisch gut seyn; daher wollen sie gern alle ihre Personen vollkommen tugendhaft schildern. Kaum daß sie es wagen, einen einzigen lasterhaften Charakter aufzuführen; und auch diesen geben sie sich alle Mühe zu mildern, bis endlich so ein Mittelding daraus wird, das nirgends recht hinpaßt. Wenn man von solchen Vorurtheilen eingenommen ist, so kann man unmöglich etwas anders hervor bringen, als ein schön moralisches Geschwät, ohne Leben, ohne Handlung und ohne Interesse. Es ist wahr, die Charaktere der Alten sind fast alle so unbestimmt, daß man nicht weiß, ob man sie tugendhaft oder lasterhaft nennen soll. Allein sie sind auch alle so. Die Alten haben selten Charakterstücke gemacht. Alle

ihre Gedichte sind, so zu sagen, Intriguenstücke, wo die Sittlichkeit der Charaktere wenig Einfluß in die Handlung hat. Daher bildeten sie ihre Charaktere so, wie sie die Handlung mit sich brachte. Die Handlung war das Hauptwerk, und nicht die Charaktere. In den neuern Stücken aber, wo die Handlung unmittelbar aus der Moralitåt fließt, müssen die Hauptpersonen alle stark abstechende Charaktere haben; und da hüte man sich, mehr als Einen vollkommen tugendhaften Charakter anzubringen. Die vollkommene Tugend hat nur eine einzige Weise, daher würden die Personen völlig einerlei Sinnes seyn müssen. Welch eine ekelhafte Einförmigkeit und welch eine Mattigkeit muß dieß nicht verursachen?

[ocr errors]

Jedoch hier ist der Ort nicht, dieses weiter zu untersuchen. Es scheint auch vom Hrn. Geßner noch etwas mehr zu seyn, als der Fehler einer falschen Kritik. Sein Kain ist noch ein Meisterstück gegen den Charakter des Anamelech, der nach den Begriffen der allerfehlerhaftesten Kritik nicht gerechtfertigt werden kann. Er war von der niedrigsten Klasse der Geister", sagt der Dichter, aber an Stolz und Ehrgeiz nicht geringer, als „Satan". Niedrig heißt in der Hölle, wer keine Macht hat. Ein unmächtiges Wesen aber, das so stolz und so ehrgeizig ist, als Satan, ist mehr verachtungswürdig als schrecklich. Er ist auch in allen seinen Reden und Thaten mehr niedrig und klein, als entseßlich, mehr schwülstig als fürchterlich. Geßner versteht die Sprache der elysäischen Felder weit besser, als die Sprache der Hölle!

Dieses bringt uns auf unsern vorigen Gedanken zurück. Wenn ein Dichter bei sich mehr Neigung zu dem Sanften und Angenehmen, als zum Wilden und Schrecklichen verspürt, so ist dieses Anzeigung genug, für welche Sphäre sein Genie bestimmt sei; und er sollte es sich eine Warnung seyn lassen, seiner Natur keinen Zwang anzuthun.

Noch ein Wort von der Poesie des Styls! Diese ist durchgehends überaus wohlklingend und lieblich, öfters lieblicher als der Gegenstand erfordert. Es ist beinahe eben die unnachahmliche Sprache, die der Verf. in seinen Idyllen führt; nur daß er sich hier weniger vor Schwulst gehütet hat, weil er hat erhaben seyn wollen. 3. B. S. 38. fagt Kain: in meinem ,,eignen unverwahrten Herzen steigen diese schwarzen Wetter,,wolken empor, und donnern jede Freude von mir, von ihnen

,,weg"; und S. 39.:,,da hat ein Schauer meine Seele gefaßt, ,,hat aus diesem häßlichen Schlamme fie empor gerißen".

Die häufigen Umarmungen und Freudenthrånen, die im Iten Gesange fast auf allen Seiten vorkommen, das öftere Weinen überhaupt, und die Flickwörtchen hin und daher wollen wir unserm Verf. nicht zur Last legen. Sie sind von den größten Dichtern unserer Nation eingeführt worden; und es gehört nicht sowohl Geschmack als Freimüthigkeit dazu, sie zu tadeln. Was die Maler Costume nennen, und wir im Deutschen durch das übliche ausdrücken möchten, hat der Dichter bis auf einige Kleinigkeiten, die wir in dem Auszuge angemerkt haben, ziemlich wohl beobachtet. Nur scheint uns das Håndedrücken und Händeküssen S. 118. nicht den Zeiten gemäß zu seyn; dieses war wahrscheinlicher Weise damals kein Zeichen der kindlichen Ehrfurcht, und jenes kein Zeichen der våterlichen Liebe.

Mit einem Worte! Hr. Geßner hat uns ein Gedicht geliefert, welches sich das erste Mal überaus angenehm lesen läßt; denn was kann ein Geßner schreiben, das sich nicht mit Vergnügen lesen ließe? Bei der zweiten Durchlesung aber fångt man an, mit kritischen Augen sich umzusehen; und diese Probe hålt das Gedicht nicht aus. Es fehlen ihm die mächtigen Triebfedern der Handlung und das durcheinandergeflochtene Interesse, zu welcherr eine Erfindungskraft im Großen erfordert wird; und dieses sind wir gewohnt in einem Gedichte von fünf Gesängen, das kein Lehrgedicht ist, zu erwarten.

Lady Johanna Gray, ein Trauerspiel, von C. M. Wieland. Frustra leges et inania jura tuenti scire mori sors optima! Burch, bey Heidegger und Compagnie, 1758. 108 Seiten, in gr. 8°.

(aus der Bibliothek der schönen Wiss. und der fr. K. Bd. 4. Stück 2. 1759. G. 785-802.)

Dieses Trauerspiel ist, bevor es im Drucke erschienen, von der Ackermann'schen Gesellschaft zu Zürich aufgeführt worden;

und es gereicht dem dasigen Publico eben so wohl als dem Dichter zur Ehre, daß es mit Beifall aufgenommen worden. Die deutschen Dichter haben selten das Glück, ein Parterre zu finden, das Einsicht und Geschmack genug hat, die wahren erhabenen Gesinnungen in ihrer völligen Größe zu fühlen und mit ihrem Beifalle zu krönen. Indessen kann der Beifall des Publici nicht alles entscheiden. Bei der ersten Aufführung kann der Kenner selbst nichts als einzelne Schönheiten und Situationen beurtheilen; und wenn diese sich gut ausnehmen, so ist er zufrieden. Nach vielfältig wiederholten Vorstellungen erst ist er im Stande, das Ganze zu fassen, und von der Anlage und Symmetrie der Theile zu urtheilen. So lange unsere Empfindungen beschäftigt sind, können wir nichts als das Gegenwärtige beurtheilen; wenn aber der Überlegung Plah gemacht wird, so fangen wir an, das Gegenwärtige mit dem Vergangenen gegen einander zu halten, und einen jeden Theil in seiner Beziehung auf das Ganze zu betrachten.

Es giebt Stücke, die, im Ganzen betrachtet, tadelhaft sind, und sich, gleichsam der Kritik zum Troße, durch unzählige Vorstellungen im Beifall erhalten. Wenn dieses geschieht, so müssen die Situationen so außerordentlich rührend seyn, daß sie die untern Seelenkräfte allezeit beschäftigen, und uns niemals Zeit lassen, an das Ganze zu denken. Der Kunstrichter hat sich in diesem Falle vor dem sehr schädlichen Vorurtheile zu hüten, als wenn die Regeln des Ganzen allezeit das Vornehmste wären. Hat der Dichter Genie genug, die Fehler der Anlage durch die Gewalt der Leidenschaften, die er erregt, unserer Bemerkung zu entziehen; so macht sich der Kunstrichter lächerlich, wenn er seine Empfindungen verläugnet, und nach Regeln urtheilt, über die fich der Dichter weit hinweggesezt hat. Es ist hier der Ort nicht, diese Materie auszuführen. Unsers Wissens haben die Kunstrichter noch sehr wenig daran gedacht, die Gränzen der Regeln und des Genies auseinanderzusehen.

Das gegenwärtige Trauerspiel Johanna Gray hat viele von den glänzenden Schönheiten, die bei der ersten Vorstellung einnehmen können. Die Schreibart ist für die Declamation überaus bequem. Das Metrum ist frei und abwechselnd, die Perioden harmonisch und deutlich, und der Vortrag edel, blühend, doch nicht zu sehr geschmückt. Die Gesinnungen und Charaktere darin sind erhaben und heroisch. Diese pflegen selten sehr heftige

« PreviousContinue »