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daß ihr nicht mehr Thätigkeit bleibt, als sonst einer bloßen Speculation.

Es ist wahr, kein Mensch kann alle seine moralischen Gefinnungen zu einer Fertigkeit erheben. In der kurzen, in der unståten Zeit, die ihm auf Erden bestimmt ist, müssen nothwendig bei ihm manche Wahrheiten unfruchtbar, und die Erkenntniß derselben todt bleiben. Ja es kann in gewissen Fällen eine ungewöhnliche Leidenschaft entstehen, die desto gefährlicher ist, je weniger man sie erwartet, und die dadurch dem besten Vorsahe Trok bieten kann. In diesem Falle ist seine Schwachheit eine menschliche Schwachheit, und sein Fehler ein unüberwindlicher Fehler. Wollen wir aber, aus Herablassung zu unserer verdorbenen Natur, uns ein falsches Ziel sehen? Wollen wir nicht unser Augenmerk auf eine vollkommne Sittlichkeit richten, und ihr mit allen Kräften immer näher zu kommen ringen? Haben sich nicht alle große Genies in den schönen Künsten wohl dabei. befunden, daß sie sich eine vollkommene Schönheit eingebildet, ob sie sie gleich in der Ausübung nie völlig erreicht haben? Nur seichte Geister stellen sich menschliche Kunststücke zum Muster vor, die niemals ohne alle Fehler sind, und ahmen sie bis auf ihre Schwachheiten nach. Was Künstlern Vortheil gebracht hat, dessen kann sich der Sittenlehrer mit mehrerem Rechte bedienen. Man beschuldigt die Weltweisen, sie seßten allzu viel auf die Vernunft; und wahrlich! der muß mehr Zutrauen zu seinen Einsichten haben, der sich von der abstractesten moralischen Wahrheit zu behaupten getrauet, es würde sie nie ein Mensch erkennen; d. h. es könnte Niemand aus derselben Beweggründe zu seiner Handlung hernehmen.

Vielleicht habe ich dieses ohne Nuhen so weitläuftig ausgeführt. Ich kann sicher voraussehen, Sie, mein Freund! sind in allen diesen Stücken mit mir einig; Sie sind ebenso sehr von der Vortrefflichkeit der theoretischen Eittenlehre überzeugt, als ich es zu seyn glaube. Wenn dieses aber ist, wie haben Sie von mir fordern können, ich hätte Empfindung gegen Empfindung, Hoffnung gegen Hoffnung, und Furcht gegen Furcht zu Felde stellen sollen? Wie hätte ich eine Wahrheit practisch ausführen können, bevor ich außer Zweifel gesekt, daß sie theoretisch richtig sei? Würde ich nicht schnurstracks wider meine Absicht gehandelt haben?

Ehe der Sittenlehrer sich bestreben darf, unsere Empfin= dungen zum Besten einer guten Handlung in Bewegung zu

seßen, muß er erst selbst überzeugt seyn, daß die Handlung gut fei. So lange seine Begriffe noch schwankend sind, muß er sich hüten, die Triebfedern der Empfindungen rege zu machen, wenn er nicht Gefahr laufen will, wider seine Absicht eine böse Handlung zu befördern. Ihr Gleichniß selbst soll mir zum Beispiel dienen. Man kann keinen Wollüstling von seiner viehischen Lebensart entwöhnen, ohne seiner Lust eine überwiegende Furcht einer bevorstehenden Unlust, oder eine gewisse Hoffnung eines höhern Vergnügens entgegenzustellen. Muß ich aber nicht, der ich einen Wollüstling von seiner niedrigen Lebensart abbringen. will, erst selbst überzeugt seyn, daß es Sünde sei, ein wollüstiges Leben zu führen? Und muß ich diese Überzeugung nicht in der demonstrativen Sittenlehre suchen? Es ist also gewiß: eine jede practische Wahrheit seht eine theoretische voraus, die auf triftige Gründe gebaut, und unumstößlich bewiesen seyn muß; und die Theorie in der Sittenlehre ist eben so unentbehrlich, als die Theorie in der Meßkunst, ob sie uns gleich beide noch die Kunstgriffe nicht zeigen, wie ihre abstracten Lehren in der Ausübung anzuwenden sind.

Und dieses war meine Absicht, als ich mir vornahm, die Zulässigkeit des Selbstmordes aus metaphysischen Gründen zu bestreiten. Ich wollte in dieser Sache nur gleichsam den Grundstein zur völligen überzeugung legen. Ich wußte es, daß mein Beweis, und wenn er auch völlig richtig ist, von einer practischen Wahrheit noch weit entfernt sei; aber ich hielt dafür, eine jede moralische Wahrheit müsse erst theoretisch richtig seyn, bevor fie der practische Sittenlehrer zur Ausübung bequemen darf. -Andere mogen nun für eine jede Art von Unglück neue Trostgründe ausfindig machen und sie mit der nachdrücklichsten Beredsamkeit unterstüßen; Andere mögen in die verschiedenen Gemüther der Menschen eindringen, um die Wunden, welche die Leidenschaften darin geschlagen haben, durch bequeme Mittel zu heilen. Die dieses unternehmen und ausführen, verdienen, Wohlthåter der Menschen genannt zu werden; sie leisten ungleich mehr, als ich geleistet habe; und ich gestehe es, daß es mir so= wohl an Einsicht in die einzelnen Charaktere der Menschen und in die Welthandel, als an Geschicklichkeit gefehlt hat, mich so nahe an die ausübende Sittenlehre zu wagen. Indeß muß doch immer der Untersag zum Grunde gelegt werden: der Selbstmord streitet wider die Geseze der Natur;" weil dieses die

theoretische Wahrheit ist, worauf sich der practische Sittenlehrer stüßt, wenn er die Empfindung wider den Selbstmord einnehmen will; und ich bin zufrieden, wenn man mir einräumt, daß diese gewaltsame Handlung mit dem Gefeße der Natur streitet.

Da Sie dieses gethan haben, da Sie an einer Stelle Ihres Schreibens ausdrücklich gestehen, daß eine Vernunft durch ihre Natur verbunden sei, dem Menschen im Selbstmorde das Leben zu erhalten, so wåren wir in dieser Sache einig, und ich könnte hier schließen; aber Sie scheinen mir zuleht auch diese Kleinigkeit nicht einräumen zu wollen; und ich gestehe es, daß ich einen Vortheil, den man mir einmal zuerkannt hat, nicht gern wieder abtrete. Ich werde also noch ein paar Worte hinzuthun müssen.

Sie dringen gegen das Ende Ihres Schreibens mit größerem Nachdruck darauf: ich hätte den verzweiflungsvollen Selbstmörder mit Trostgründen aufrichten sollen. Wenn das Gemüth von einem gegenwärtigen Schmerze angefochten wird, und wenn dieser Schmerz so peinlich ist, daß wir unser Daseyn verwünschen, so kann uns nichts anders heilen, als das anschauende Erkenntniß einer Vollkommenheit, die das quålende Gefühl gleichsam überwältigt. Der bloße Begriff des Daseyns, sagen Sie, ist ein abgesonderter Begriff, der niemals in das Herz übergeht; ein trockenes Gerippe, das mit Fleisch und Adern bekleidet werden muß, wenn uns seine Schönheit einnehmen soll; und ich ge= stehe es, daß ich Ihnen nichts zu antworten wüßte, wenn ich die Absicht gehabt hätte, den Selbstmörder durch trockene Schlüsse in das Leben zurückzurufen. Wo die Vorurtheile tief Wurzel gefaßt haben, wo die Irrthümer in das Herz gedrungen, und durch lange Gewohnheit in eine schädliche Fertigkeit ausgeartet sind; da dringt die lautere Wahrheit nicht tiefer ein, als der Pfeil eines kraftlosen Priamus in das Schild des Pyrrhus gedrungen ist. Sollten in einem so entscheidenden Augenblicke Trostgründe die erwünschte Wirkung thun, so befiehlt die Klugheit, daß sich der Tröster selbst nach den Vorurtheilen des Elenden bequeme; daß er ihm das anschauende Erkenntniß einer Vollkommenheit vorlege, die er, ohne von seinem Irrthum abzuweichen, für eine Vollkommenheit erkennt. Man predige einem Harpagon, der jeht die ganze Stadt foltern lassen will, weil ihm sein summum bonum, sein Geldkästchen, ist entwendet wor= den; man predige dem die Nichtigkeit der irdischen Güter und

die mehr als kindische Eitelkeit der überflüssigen Reichthümer vor; er wird gewiß noch rasender werden, und vielleicht den leidigen Tröster am ersten foltern lassen wollen. Sagen Sie ihm hingegen: man hätte irgendwo ein graurothes Kästchen gesehen, das; den Augenblick wird sich sein Gesicht aufheitern, und er wird Sie noch freudiger umarmen, als der trübsinnige Weise, der vor seiner Vernichtung geschauert, und der jezt von Ihnen seiner Unsterblichkeit versichert worden wäre. Haben aber deswegen alle moralische Gründe, die uns die elende Thorheit des Geizes lehren, gar keinen Nußen? oder sind sie immerdar unkräftig, einen Menschen von diesem verderblichen Laster abzuhalten, auch wenn er sie sich in gleichmüthigen Stunden eingeprägt und durch eine wiederholte Übung gleichsam in fein eigen Blut verwandelt hat? Das Daseyn, das ich der Zernichtung entgegensehe, ist nur in der Demonstration, wo ich nothwendig allgemeine Formeln brauchen muß, ein abstracter Begriff. In der Anwendung auf besondere Fälle, die ich dem practischen Sittenlehrer überlasse, kann es niemals von allen Vollkommenheiten leer seyn. Wo Mängel sind, da müssen auch Realitäten anzutreffen seyn. Das Gefühl der Schmerzen selbst zeigt auf einen gewissen Grad der Realität, der durch die Unvollkommenheit eingeschränkt, aber nicht gänzlich aufgehoben wird; und ich glaube bewiesen zu haben, daß der mindeste Grad der Vollkommenheit, in Vergleich gegen eine Zernichtung, unsrer Wahl den Ausschlag geben müsse. Nach meinen Begriffen wer den angenehme und unangenehme Empfindungen durch keine bestimmte Gränzen getrennt, weil beide nichts, als relative Begriffe sind, die sich von dem kleinsten Grade der Realität in einer langen Reihe bis an das Unendliche erstrecken; und die Zernichtung ist ihr Abgrund.

Sie fragen mich irgendwo in Ihrem Schreiben: soll das Gefühl meines Daseyns angenehm oder schmerzhaft seyn?" Zergliedern Sie diese Frage. Soll ich mir die Begriffe, die ich habe, gern vorstellen wollen, oder ungern? Sollen sie mich vollkommener oder unvollkommener machen? Sollen sie die Gränzen meines Daseyns nåher einschränken, oder erweitern? Erinnern Sie sich hierbei, daß hier die Frage nicht ist, ob ich diese Begriffe, oder irgend andere wählen soll. Nein! To be or not to be, that is the question. Die Frage ist, ob mein Daseyn die Gränzen meiner Realität mehr oder weniger erweitern wird, als

meine Zernichtung. Wird es noch nöthig seyn, hierauf zu antworten?

Ich komme zu einer Stelle in Ihrem Schreiben, wo ich beforge, Ihren Sinn nicht recht getroffen zu haben. Ich werde mir also eine nåhere Erklärung darüber ausbitten müssen. Sie legen mir eine Vertheidigung in den Mund, die nicht besser håtte ausgedrückt werden können.,,Das Gefühl des Daseyns", sagen Sie in meinem Namen, „besteht in der Deutlichkeit, Wirksamkeit und dem Umfange der Kraft, sich die Dinge vorzustellen; und dieses ist für keine Kleinigkeit zu achten." Wohl! dieses sei meine Antwort. Wenn Sie aber, um mir auch diese Ausflucht zu benehmen, die Frage aufwerfen: „macht uns unsere Vorstellungskraft deswegen glücklich, weil sie viel deutliche und vollstän= dige Begriffe hervorbringt; oder darum, weil sie von solchen Gegenständen viel deutliche Begriffe hervorbringt, die uns Vergnügen erwecken?" u. f. w.; so gestehe ich, daß ich nicht mit Ihnen geantwortet hätte: mich däucht, es ist das Lehtere." Ich würde mich vielmehr auf alle Briefe des Theokles an Euphranor berufen *), worin ich ausgemacht zu haben glaube, daß uns diejenigen Vorstellungen angenehm sind, die unserm ursprünglichen Bedürfnisse, unserm Bestreben nach Erkenntnissen zuträglich sind. Die Gleichnisse, die Sie zu Bestätigung Ihres Sakes angeführt, scheinen mir nichts weniger als überzeugend. Der menschliche Körper geråth wirklich in einen bessern Zustand, d. h. er wird gesünder, wenn die Wirksamkeit aller seiner Kräfte in einem gleichmäßigen Verhältnisse zunimmt. In einem higigen Fieber werden nur die Lebensbewegungen heftiger, die natürlichen. hingegen nehmen ab; die Verdauung geht nicht vor sich, die Ausdünstung wird unterbrochen u. f. w. Wundert man sich noch, daß ein hißiges Fieber eine Krankheit sei?

Die lebhafte Erkenntniß des Fiebers, die Sie sich auf Ihre Kosten erworben haben, ist Ihnen unangenehm, weil sie im genauen Verstande vielmehr ein Mangel des Erkenntnisses zu nennen ist. Sie erkennen nichts, als eine Unvollkommenheit in Ihrem Körper, eine Mißstimmung in seinen Fibern, wodurch ihre eigene Realität auf eine Zeit lang eingeschränkt, und Ihr ganzes Wesen unvollkommner wird.

*) Bd. I. Seite 107.

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