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Aus der Neuen Berlinischen Monatsschrift *).

1. Brief an Resewiß **), über den Selbstmord. (Aus der Neuen Berl. Monatsschrift Bd. 24. Sept. 1810. S. 168—192.)

Verehrtester Freund!

Ihre Freunde, sagen Sie, reden Ihnen nach, Sie wären zu schreibsüchtig. Wenn dieses mehr als ein Scherz ist, so müssen Ihre Freunde selten solche Briefe von Ihnen bekommen haben, als derjenige ist, den ich jest beantworten will. Ich sage: beantworten; denn ob ich die Gründe widerlegen werde, die darin enthalten sind, muß ich Ihrem Urtheil überlassen. So viel ist gewiß: in der Schreibsucht bestehe ich meinen Mann; und wenn

*) Die hier folgenden Aufsäge sind in dem Jahrg. 1810 der Neuen Berlinischen Monatsschrift von Fried. Nicolai mitgetheilt worden, der fie (Bd. 23. S. 40.) mit folgenden Worten einleitet:,,Als ich kürzlich in meinen alten Papieren nachzusuchen hatte, fand ich mit wehmüthigem Vergnügen auch manches von der Hand meines verewigten Freundes. Etwas davon will ich hier bekannt machen, vielleicht künftig einmal noch etwas. Es ist nur wenig, aber von einem Manne, der nicht wenig war." **) In einer Anm. S. 168-9. redet Nicolai von dem Briefwechsel, den Moses Mendelssohn mit Resewig unterhalten hat. (Anm. des Herausg.)

Ihnen meine Geschwäßigkeit damals beschwerlich gewesen ist, als wir uns vornahmen, Ihren langweiligen Gast durch die Metaphysik zu vertreiben, so möchte es Ihnen bald leid seyn, daß Sie meine Feder in Gang gebracht haben. Wir wollen sehen, ob sie, oder das verdrießliche Fieber, Ihre Geduld mehr auf die Probe stellen wird.

Ich kann unmöglich an einen Beweis wider den Selbstmord denken, ohne das wehmüthige Andenken jenes rechtschaffe= nen Freundes in meinem Gemüthe zu erneuern, der mir seine Einwürfe dawider am ersten mitgetheilt hat. Er genießt nun den Lohn seiner Tugend in jener herrlichen Welt, wo er die Wahrheit in einem ungleich hellern Glanze schaut; und sieht vielleicht von seiner Höhe mit einem stillen Vergnügen auf uns herab, wie ein Kämpfer, der den Preis errang und jest zwei Jünglinge im Thale sich üben sieht. Ich werde den Abschied nie vergessen, den er bei seinem lehten Hierseyn von mir nahm, nachdem wir uns bei unserm Herrn Müchler zum erstenmal ge= sehen und geliebt hatten. „Leben Sie wohl," sagte er zu mir, als er unter den Linden von mir ging; wir wollen uns lieben, aber nicht, wie sich die Weltlichen lieben!" Da er nunmehr die Ewigkeit angetreten hat, so erkennt er mit der lebhaftesten Überzeugung, wie ungereimt jene Hypothese sei, die wir bei unsrer Streitsache voraussehen müssen. Wer in einer Gesellschaft von lauter Seligen lebt, der darf an den unmöglichen Fall nicht einmal gedenken, daß die Seele sterblich sei. Nur uns geziemt es, aus Menschenliebe öfter von dem Wege der Wahrheit abzuweichen, um Irrende in die Heerstraße einzulenken; und dieß thun wir, wenn wir nach der Hypothese der Ungläubigen. streiten.

Sie beklagen sich gleich im Eingange Ihrer Widerlegung über das Verfahren der Weltweisen, die das bloße Wesen eines eingeschränkten Geistes zum Grunde legen, und aus dieser nackten Abstraction Folgen ziehen, die sie dem Menschen zur Ausübung vorlegen zu können glauben. Ihre Vorschriften, sagen Sie, sollten zwar von bloß vernünftigen Wesen, von Bürgern der Geisterwelt, nach aller Strenge ausgeführt werden; aber warum verdammen sie den Menschen, der sich nie ohne außerwesentliche Umstände, ohne körperliche Zufälligkeiten befindet, in dem jeder Zeit Sinne und Affecten in Bewegung sind? warum verdammen sie dieses schwache Geschöpf, fragen Sie, wenn es

seinen Lebenswandel nicht nach den Vorschriften einer abstracten Vernunft einrichten kann? Weit billiger scheint Ihnen die menschenfreundliche Nachsicht der bürgerlichen Richter, welche den Menschen nach den Schwachheiten beurtheilen, die von seiner Menschheit unzertrennlich sind, und ihren Untergebenen oft solche Vergehen verzeihen, die ein strenger Weltweiser auf das schårfste geahndet haben würde.

Ich will mich bei dieser allgemeinen Anklage wider alle systematischen Sittenlehren ein wenig aufhalten, bevor ich zu der Anwendung komme, die Sie davon auf meinen Beweis machen.

Philosophen und bürgerliche Richter haben sich einerlei Absicht zum Ziel geseht; nur in den Mitteln, deren sie sich zu dieser Absicht bedienen, weichen sie von einander ab. Sie haben sich einerlei Absicht zum Ziele geseht: sie wollen Blödsinnige, denen es sowohl an Einsicht,' als an Geschmack fehlt, die innere Schönheit der rechtschaffnen Handlungen wahrzunehmen, zu ihrer Pflicht anhalten, und das moralisch Gute auf Erden befördern. Nun kann dieses auf zweierlei Art geschehen. Man verändert entweder die Beschaffenheit der Handlungen, indem man gewisse, willkührlich angenehme oder unangenehme Empfindungen mit ih nen verbindet, und dadurch dem innerlichen Werthe oder Unwerthe der Handlungen ein größeres Gewicht giebt; oder man läßt die Natur der Handlungen, wie sie ist, und verändert die Vorstellung, die sich derjenige von ihnen macht, der sie ausüben oder unterlassen soll. Jenes thut der Richter; und die sinnlichen Schmerzen, die durch willkührliche Sahungen mit gewissen Handlungen verbunden werden (haben Sie immer Geduld mit meinen metaphysischen Distinctionen!), werden bürgerliche Strafen genannt. Man sieht also, daß diese Art, die Menschen zu ihren Pflichten anzuhalten, für sich betrachtet, die Anzahl der übel in der Natur vermehrt; allein sie ist löblich; sie ist unentbehrlich, weil sich der größte Haufen der Menschen von keiner vernünftigen Vorstellung lenken läßt, und nothwendig durch gewalt= same Mittel angetrieben werden muß. Wo der Begriff, den man sich von der Beschaffenheit der Handlung macht, nicht verbessert werden kann, da muß die Sittlichkeit der Handlung selbst thätiger gemacht werden.

Wird also eine jede Abweichung von dem Gesehe der Natur zu bestrafen seyn? Keinesweges! nur solche, die durch kleinere

physische Übel zu hintertreiben sind. Die Summe des wirklichen. Guten muß durch die willkührlichen Strafen vermehrt werden; und wer außer diesem Falle die Menschen mit seiner Strafgerech tigkeit plagt, der muß an dem physischen übel ein wildes Gefallen finden. Wollten wir diesen einen Weltweisen nennen?

Wo wird also der Fall hingehören, wenn unsre Leidenschaft z. B. durch einen gerechten Schmerz in Flammen geseht wird? Nothwendig zu der Zahl derjenigen Abweichungen und Sünden wider die Geseze der Natur, wovon der größte Haufen der Menschen nicht anders als durch größere physische Übel abzuhalten ist. Jene reichen also über die Gränzen der Strafgerechtigkeit hinaus; und es ist nicht ein bloßer mitleidiger Trieb, es ist ein Vernunftschluß, der die bürgerlichen Richter abhält, solche Schwachheiten mit Strafe zu belegen.

Sollte aber die innerliche Sittlichkeit da aufhören, wo die bürgerliche Strafgerechtigkeit aufhört? Ist eine Handlung, wozu uns ein gerechter Schmerz (justus dolor) antreibt, deswegen anständig? ist sie tugendhaft? ist sie richtig? Oder ist sie deswegen. rechtschaffen, weil sie nicht zu bestrafen ist? Keinesweges! Das Gebiet der innern Sittlichkeit ist unumschränkt; es erstreckt sich auf alle unsere Handlungen ohne Ausnahme; auf die innern, auf die äußerlichen, auf die kleinern Handlungen, woraus andere zusammengesetzt sind; und sogar auf die entferntesten, die auf unsern gegenwärtigen Wandel nur den mindesten Einfluß haben, weil die kleinsten Umstände zu der völligen Rechtschaffenheit einer Handlung das Ihrige beitragen. Ja ich will beweisen, daß ein Weltweiser, der die innere Sittlichkeit in ihrem ganzen Umfange betrachtet, etwas mehr vorhat als eine bloße Speculation, wenn man ja alle Speculationen aus der Sittenlehre verbannen will.

Bei einer jeden moralisch bösen Handlung, die wir mit Vorsah unterlassen, machen wir stillschweigend folgenden Vernunft: schluß: diese Handlung läuft wider das Gefeß der Natur, also will ich sie verabscheuen." Der theoretische Sittenlehrer macht die Handlungen namhaft, die mit den Gesehen der Natur streiten; und er beweist nach aller Strenge, in welchem Falle eine Handlung richtig, anständig, erhaben und tugendhaft sei; ohne sich zu den menschlichen Schwachheiten herunterzulassen, ohne dem Sünder Beweggründe an die Hand zu geben, die nach seiner elenden Denkart zugeschnitten sind. Er beschäftigt sich mit der wahren Würde der menschlichen Natur; und seine Vorschriften

müssen sowohl von dem bürgerlichen Richter, als von dem practischen Sittenlehrer angenommen, ja fogar, wie ich erweisen werde, vorausgesezt werden..

Indeß sind seine abstracten Lehren in manchen Fällen zwar richtig, aber nicht wirksam; zwar erweisend, aber nicht thätig genug, die Menschen mit Beweggründen zu ihren Handlungen zu versehen. Wenn sich Sinn und Affecten wider unsre Vernunft zusammenrotten, wenn sie sich vereinigen, durch dunkle Empfindungen dem Laster einen Schein der Schönheit anzustreichen; so unterliegt die Speculation, die noch in unserm Gemüth nicht rechte Wurzel geschlagen, die sich noch nicht, so zu sagen, unserm Blute einverleibt hat. Hier erscheint der bürgerliche Richter und der practische Weltweise; sie erregen Empfindungen wider Empfindungen. Sie vermehren die Anzahl oder verstärken den Nachdruck der Beweggründe zum Guten, und unterstüßen die Wahl, die der theoretische Weltweise zwischen unsern Handlungen ge= troffen hat. Der bürgerliche Richter zerschneidet den Knoten. Wir haben ges.hen, daß seine Hülfe mit den gewaltsamen Ope: rationen eines Wundarztes verglichen werden kann, die in manchen Fällen den Kranken mehr Schmerzen verursachen, als sie wirklich heilen.

Ganz anders verfährt der practische Weltweise. Er vermehrt nicht eine Art von übel, um ein anderes zu vermindern ; nein! er bedient sich gelinderer Mittel. Er verordnet uns: die abstracten Lehren, die der theoretische Sittenlehrer herausgebracht, öfter zu überdenken, täglich mit andern Wahrheiten zu verbinden, und in nüchternen Tagen, wenn uns keine Leidenschaft widersteht, unsere Handlungen danach einzurichten. Hierdurch erlangen wir eine Fertigkeit, uns nach dieser erkannten Wahrheit zu bes stimmen. Unsere Wahl des Guten wird zu einer Art von Instinct; und wenn alsdann die Leidenschaften in uns stürmen, so ist diese moralische Wahrheit nicht mehr eine bloß abstracte Spe= culation, die in unserer Seele einzeln zur Gegenwehr dahingestellt ist, sondern sie stellt sich unserm Gemüthe in Verknüpfung mit unzähligen andern Wahrheiten, mit unzähligen kleinen Handlungen vor, die wir nach ihrer Veranlassung ausgeübt haben. Alle diese Vorstellungen zusammen verwandeln sich in einen Affect; es stehen Empfindungen wider Empfindungen auf; und wenn die Leidenschaft nicht allzu heftig ist, so kann sie se sehr durch die Gegenwirkung des guten Affects geschwächt werden,

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