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daß darüber nicht allgemeines Einverständnis herrschen sollte, und jeder Ausleger ist genöthigt, sich gelegentlich auf diesen Grundsatz zu berufen, wie denn auch schon Chrysostomus mit besonderer Beziehung auf das Gleichnis Matth. 20, 1-16 dieser allgemeinen Siegel treffendent Mushrud gegeben bat: οὐδὲ χρὴ πάντα τὰ ἐν ταῖς παραβολαῖς κατὰ λέξιν περιεργάζεσθαι, ἀλλὰ τὸν σκόπον μαθόντες, δι ̓ ὃν συνετέθη, τοῦτον δρέπεσθαι καὶ μηδὲν πολυπραγμονεῖν περαιτέρω. Go felt aber über diefen So sehr allgemeinen Grundsatz Einigkeit herrscht, so verschieden ist fast bei jedem Gleichnis und bei jedem Ausleger die Art und die Ausdehnung, in welcher er zur Verwendung kommt, und es ist demnach mit der Anerkennung jenes Kanons der in der Deutung der Gleichnisse herrschenden Uneinigkeit und Unsicherheit gegenüber so gut wie nichts gewonnen.

Wir haben somit nach bestimmteren Normen für die Deutung der Gleichnisse zu suchen, und fassen zu diesem Zwecke die beiden Abwege ins Auge, auf welche die Deutung gerathen kann. Der erste dieser Abwege, welcher mir allermeist noch be= treten zu werden scheint, ist der, daß man das richtige Maß der Deutung überschreitet, indem man die erbauliche Anwendbarkeit eines Gleichnisses verwechselt mit dem einfachen ursprünglichen Sinn, welchen die Parabel im Munde Jesu denen gegenüber hatte, denen er sie vortrug. Mögen hier und da einzelne Züge in einem Gleichnisse sich noch so augenfällig zu einer bestimmten Anwendung für das christliche Leben darbieten, oder noch so passend und schlagend zur bildlichen Darstellung bestimmter christlicher Wahrheiten sich verwenden lassen, so ist damit noch keineswegs sichergestellt, daß fie in dem Zusammenhang des Gleichnisses ursprünglich diesen Sinn hatten. Vielmehr geräth gar oft die Deutung eines Gleichnisses dadurch in üble Verwirrung, daß der Ausleger vorab eine bestimmte Einzelheit herausgreift, für diese eine bestimmte, scheinbar vielleicht sehr naheliegende, in der That aber ursprünglich nicht intendirte Deutung in Anspruch nimmt, und dann alles Uebrige damit in Einklang zu bringen sich genöthigt sieht. Dem gegenüber ist auf das strengste an dem einfachen Grundsay festzuhalten: Nihil amplius quaerendum est quam quod tradere

Theol. Stud. Fahrg. 1874.

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Christi consilium fuit. (Calvin zu Matth. 20, 1-16.) Bei der Deutung eines Gleichnisses hat man vor allem zu fragen, was Jesus damals, als er es vortrug, denen, welchen er es vortrug, damit hat sagen, welche Lehre, Mahnung oder Warnung er ihnen damit hat geben wollen, und unter strenger Beibehaltung dieses Gesichtspunktes ist es zu beurtheilen, inwieweit das Einzelne im Gleichnisse nach dem ihm zu Grunde liegenden Plane ein bestimmtes Gegenbild in der Deutung fordere, event., wie es zu deuten sei.

Freilich aber darf man es auch mit dieser Beurtheilung sich nicht zu leicht machen. Wollte man sich etwa daran genügen lassen, die allgemeine Lehrtendenz des Gleichnisses aufzuzeigen, und dann über seine Einzelheiten, soweit sich ihre Deutung in den Bereich jener allgemeinen Tendenz nicht von selbst eingefügt, leicht hinweggehen, indem man sie für bloßes Beiwerk und Schmuckwerk der Erzählung erklärt, so würde man damit nur den entgegengesetzten Abweg betreten. Bloßes Beiwerk und müßiges Schmuckwerk gibt es genau genommen in den Gleichnissen Jesu überhaupt nicht. Dieser zweite Grundsaß wird als Ergänzung jenes ersten überall festzuhalten sein. Denn mit der Annahme, daß Jesus seinen Gleichnissen einzelne Bestandtheile eingefügt habe, welche zu nichts oder doch zu nichts anderem dienen, als der Erzählung äußerlich eine gefälligere Gestalt zu geben, darf man doch wohl nirgends sich im Ernste zufrieden geben. Vielmehr wird vorauszusetzen sein, daß alle Einzelheiten eines Gleichnisses, insofern sie nicht bestimmt sein sollten, für sich ein besonderes Gegenbild in der Deutung zu finden, dennoch irgendwie ihre bedeutsame Stellung in dem Zusammenhang des Ganzen haben und so dem Zwecke des Ganzen dienen werden, sei es nun, daß sie eine darzustellende Wahrheit an ihrem Theile durch Ausmalung ins Einzelne veranschaulichen helfen, sei es, daß sie dem planmäßigen Aufbau der Erzählung als nothwendige Bestandtheile sich einfügen. Der Ausleger darf also niemals sagen, daß diese oder jene Einzelheit außerhalb des Bereiches der bestimmten Vergleichung liege und darum nicht ausgedeutet werden dürfe, ohne zugleich nachzuweisen, welchem Zwecke sie denn an ihrer Stelle in dem Zusammenhang des Ganzen diene.

Soll nun aber in Anwendung dieser Grundsätze die Aufgabe, den ursprünglichen Sinn eines Gleichnisses ebenso rein als vollständig zu ermitteln, mit annähernder Sicherheit wirklich gelöst werden, so muß die Auslegung auch einen folgerichtigen Weg einschlagen, wie er durch die Natur dieser Aufgabe geboten ist. Und zwar scheint mir der richtigste und am sichersten zum Ziele führende Weg, welcher dem Ausleger eines Gleichnisses durch die Natur seiner Aufgabe vorgezeichnet ist, der folgende zu sein.

Ehe man an das Gleichnis selbst herantritt, wird vor allem, soweit der Text darüber Angaben bietet, mit möglichster Genauigkeit festzustellen sein, aus welcher Veranlassung oder in welchem Zusammenhang, und zu wem Jesus das Gleichnis geredet hat. Demnächst hat man der bildlichen Erzählung selbst in ihrem natürlichen Verlaufe Wort für Wort und Schritt für Schritt zu folgen, indem man zunächst nur überall das Verständnis ihres einfachen auf dem Gebiete des Natur- oder des Menschenlebens liegenden Wortsinnes sucht, ohne sich dabei, wie das gewöhnlich geschieht, schon auf das Gebiet der Deutung einzulassen, ohne bei jedem Verse und jedem Fortschritte der Erzählung gleich zu fragen, was wol damit abgebildet werden solle, überhaupt ohne sich in dem Verständnis ihres Ganges und Zusammenhanges irgendwie stören und beirren zu lassen durch den Gedanken an die Deutung und ihre etwaigen Schwierigkeiten. Denn dadurch, daß man so die Erzählung in ihrem natürlichen Verlaufe bis zu ihrem Schlusse, auf den oft alles ankommt, unbefangen auf sich wirken läßt, wird erst die sichere Grundlage gelegt für eine einheitliche Deutung des Gleichnisses. Es werden ja nun bei einer solchen zusammenhängenden Betrachtung des Textes nach seinem Wortsinne sowol diejenigen Bestandtheile der bildlichen Erzählung, welche ihren inneren Gang entscheidend bestimmen und darum ihren wesentlichen Inhalt ausmachen, als auch diejenigen, welche nur dem Zwecke veranschaulichender Ausmalung oder nur zur Construction ihres äußeren Aufbaues dienen, dem Ausleger von selbst als solche hervortreten, und werden damit die nöthigen Voraussetzungen gewonnen sein, um demnächst bei der Deutung auf Grund jener Vorarbeit alle nur scheinbaren Schwierigkeiten leicht und sicher zu lösen.

seits aber wird auf diese Weise von vornherein die Gefahr vermieden, die wirklichen Schwierigkeiten, welche die Deutung etwa bietet, dadurch zu verwischen, daß man um der Deutung willen, die man herausbringen zu müssen glaubt, dem Texte der Erzählung einen Sinn aufzwingt, welchen ihr Wortlaut für sich nicht bietet, wie das insbesondere bei dem Gleichnis von dem ungerechten Haushalter vielfach geschehen ist.

Aber auch, nachdem so die sichere Grundlage für die Deutung des Gleichnisses gelegt ist, werden wir doch noch nicht unmittelbar in seine specielle Deutung einzutreten haben, sondern zuvor ist nun drittens seine allgemeine Lehrtendenz zu ermitteln, indem man den erforschten Gang und Inhalt der Erzählung vergleicht mit dem, was vorher über den Zusammenhang hat festgestellt werden können, in welchem Jesus sie vorgetragen hat, und über die Personen, an welche er ihren Vortrag gerichtet hat. Bei vielen Gleichnissen kommt hier der Auslegung ein der bildlichen Erzählung hinzugefügter deutender Ausspruch Jesu zu Hülfe.

Und jetzt erst, nachdem man der Tendenz, welche dem Ganzen zu Grunde liegt, und damit des Gesichtspunktes sicher ist, unter welchen man das Ganze zu stellen hat, wird die eigentliche Deutung im einzelnen zu vollziehen sein, und zwar nunmehr in einheitlichem Zusammenhang. Die Auslegung wird wieder auf den Anfang der bildlichen Erzählung zurückgreifen und, ihr abermal Schritt für Schritt bis zum Schluffe folgend, jeden ihrer einzelnen Bestandtheile in seiner Bedeutung für das Ganze würdigen, und überall dem Bilde das Abgebildete bestimmt gegenüberstellen.

Nach diesen Vorbemerkungen gehen wir über zu der Auslegung der Gleichnisgruppe Luk. 15 u. 16, um die dargelegte Methode zu erproben.

berichten uns die zwar zunächst der

Die beiden ersten Verse des 15. Kapitels Veranlassung der nachfolgenden Gleichnisse und drei in diesem Kapitel enthaltenen. Es wird erzählt: Hoav dè αὐτῷ ἐγγίζοντες πάντες οἱ τελῶναι καὶ οἱ ἁμαρτωλοὶ ἀκούειν avrov. Das лávres kann nicht eine bloße Hyperbel der Erzählung sein, denn alle" anstatt viele" zu sagen, wäre eine un

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erlaubte Uebertreibung; noch weniger kann man überseßen allerlei Zöllner und Sünder“, denn яávres heißt nicht „allerlei“. Es ist vielmehr ávτres in seinem gewöhnlichen Wortsinne zu belassen: „alle Zöllner und Sünder naheten sich zu ihm“, d. i. es war bei dieser Classe von Leuten ein allgemeines Herzuströmen zu Jesu. Damit ist auch der Sinn des oav syyisovτes genau wiedergegeben. Denn, war das Nahen zu Jesu bei dieser Classe von Leuten ein allgemeines, so war es natürlich auch ein andauerndes, was durch das Hoav ¿yyíçovres ausgedrückt sein will. — Ueber die Aufnahme nun, welche diese Zöllner und Sünder bei Jesu fanden, „murreten die Pharifäer und die Schriftgelehrten, indem sie sprachen: dieser nimmt die Sünder an und isset mit ihnen". V. 2. Wir haben also hier eine ganz ähnliche Situation wie Matth. 9, 10. 11, an welche Stelle insbesondere auch noch der Vorwurf Ovvεo Fiei avtois erinnert. Freilich muß es dahingestellt bleiben, ob diese Worte hier ebenso wie dort mit Bezug, auf die augenblickliche Situation gesprochen werden, so daß wir Jesum auch hier mit Leuten jener Art zu Tische sizend zu denken hätten, oder, ob sie sich auf solches beziehen, was Jesus sonst zu thun pflegte. Jedenfalls sehen wir auch hier den Herrn beschäftigt mit Zöllnern und Sündern, und daneben etliche Pharifäer und Schriftgelehrte, welche an diesem Anblick sich ärgern, und so laut darüber murren, daß es Jesu zu Ohren kommt. Da wendet sich nun Jesus diesen Pharisäern und Schriftgelehrten zu, und zu ihnen spricht er, wie V. 3 uns sagt, das V. 4-7 nachfolgende Gleichnis, an welches sich unmittelbar ein zweites gleichartiges anfügt, V. 8-10. Mit einem bloßen ɛiлev dè wird sodann ein drittes Gleichnis den beiden vorangegangenen angeschlossen, V. 11-32, während das vierte Gleichnis und was weiter daraus folgt Kap. 16, 1—13 mit der Sendung ἔλεγεν δὲ καὶ πρὸς τοὺς μαθητάς eingeführt wirs. Erst bei diesem vierten Gleichnis hat sich also der Herr wieder von den Pharisäern und Schriftgelehrten ab, und „den Jüngern“ zugewendet, und sind somit die drei Gleichnisse des 15. Kapitels sämtlich an die Pharifäer gerichtet als Antwort Jesu auf ihr Murren, und in dieser Richtung werden wir den Schwerpunkt dieser Gleichnisse zu suchen haben.

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